Willkommen zwischen den Zeitenwänden, 4.39

Das Logbuch geht weiter: Walking in my shoes

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Ein Krankenhausaufenthalt ist wie ein paralleles Leben, das mit dem eigenen am besten nichts zu tun haben soll – vor allem, wenn man aus dem gewohnten so mir nichts dir nichts herausgerissen wird und zunächst gar nicht glauben kann, dass man (zumindest vorübergehend) an diesem Ort leben, beziehungsweise liegen muss. Oder sterben. Wobei ich daran lieber nicht denken möchte. So war es mir vergangene Woche äußerst wichtig, mit einem völlig unerwartet auftretenden Problem selbstständig und per pedes ins Krankenhaus zu gehen. Ebenso habe ich es mir nicht nehmen lassen, selbstständig den Heimweg anzutreten – nach genau einer Woche.

Das Trügerische an vielen Erkrankungen ist, dass man sie allzu leicht unterschätzt. Dass man sich nicht vorstellen kann, welch dramatischen Verlauf sie nehmen können; und dass sie in nur wenigen Minuten alles verändern – oder eben auch beenden können. Doch darum soll es in diesem Text nicht gehen, sondern vielmehr um das, was im Krankenhaus mit einem geschieht. Es beginnt, wie eingangs erwähnt, mit der Erkenntnis, dass „drinnen“ eine grundlegend andere Welt als „draußen“ ist – vergleichbar am ehesten wohl mit einer Kaserne oder einem Gefängnis. Denn egal, wie selbstständig man im Krankenhaus ankommt: Sobald man eingecheckt hat, sind andere für einen verantwortlich – und zwar alleinverantwortlich.

Es ist wie eine Entmündigung: Man wird auf dem Bett durch die Gänge gefahren, obwohl man die Meinung äußert, selbstständig gehen zu können. Langsam und sehr vorsichtig, aber eben selbstständig. Ähnlich ist es, wenn man nach der Erstuntersuchung auf seiner Zielstation angekommen ist und mit dem Rollstuhl zu Untersuchungen gefahren wird. Man wird irgendwohin gerollt und abgestellt, bis man dran ist. Es ist immer gut, sich den Weg zu merken – falls man selbstständig zurück in sein Zimmer möchte.

Um nicht missverstanden zu werden: natürlich meinen es alle gut mit einem und mit etwas Glück hat das Personal auch noch etwas Zeit, die wichtigsten Dinge zu erklären. Dem aufmerksamen Patienten kann jedoch nicht verborgen bleiben, dass er vom Personal nicht immer ganz ernst genommen wird. Man muss nicht nur nachweisen, dass man voll zurechnungsfähig ist, sondern, um als seriöser Gesprächspartner auf Augenhöhe akzeptiert zu werden, sollte man sich profundes medizinisches Wissen aneignen. Dabei maße zumindest ich mir nicht an, auch nur irgendeine medizinische Fachkompetenz zu besitzen – doch meine morgendliche Pillenration zählen kann ich gerade noch. Genau das allerdings sieht ein im Grunde recht erfahren wirkender Pfleger anders, als er mich zum ersten Mal in dieser Woche sieht und mir die falsche Tablettendosis bereitstellt. Schlimmer noch: Er gesteht, Patientenaussagen grundsätzlich nicht zu glauben. Dabei müsste er mir einfach nur aufmerksam ins Gesicht blicken und nachfragen, was meiner Meinung nach nicht stimme – und könnte sich die Arbeit dadurch erheblich leichter machen.

Derweil liegt im Bett neben mir ein in der Tat etwas weniger zurechnungsfähiger Herr – um den erheblichen Unterschied unser beider Geisteszustände zu erkennen, muss man jedoch beileibe kein medizinisches Fachpersonal sein –, der mal des nachts eine seiner vielen angebrochenen Wasserflaschen auf meinem Beistellwägelchen entleert und mal meine Socken neben seinem Kopfkissen platziert – wie auch immer er an die herangekommen ist. Der etwas ältere Patient erinnert mich an Alexis Sorbas und kommt aus Thessaloniki. Einerseits tut er mit leid, andererseits hat er so wenig Kontrolle über sich, dass ich froh bin, als er entlassen wird. Dummerweise werde zur selben Zeit auch ich entlassen und plötzlich sind meine Schuhe verschwunden. Einfach so. Ich suche alles ab: Schrank, Bad, Bett und unterm Bett – einmal, zweimal – erfolglos. Ich bereite mich seelisch darauf vor, das Krankenhaus doch nicht verlassen zu können.

Der Pfleger (diesmal ein anderer), der sich eigentlich um das Packen der Sachen des Griechen zu kümmern hat, bemerkt meine aufsteigende Verzweiflung und bietet seine Hilfe an. Ich beschreibe ihm meine Schuhe. Nachdem auch er nicht fündig wird, kümmert er sich weiter um Alexis. Plötzlich zeigt er leicht irritiert auf dessen Füße und fragt mich: „Meinen Sie diese Schuhe?“ Fast hätte Alexis es geschafft: Gratis gute Wanderschuhe zum Fortgehen – obwohl er, insbesondere ohne seine Frau, selbstständig besser keine drei Meter weit das Haus verlassen sollte.

Behandelt mich doch wie ihr wollt – aber nehmt mir, solange ich noch gehen kann, niemals die Schuhe weg!

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