Willkommen zwischen den Zeitenwänden, 5.06

Das Logbuch geht weiter: Über das digitale Verschwinden

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Mit unseren Politikern haben wir aber auch ein Pech: Der Kanzler beginnt seine Ansprachen gerne wie der Vorstand eines insolvenzbedrohten Unternehmens, dessen Phrasen man nicht mehr hören mag, die Außenministerin erinnert mich an eine AstA-Vertreterin, die an einer besseren Welt mitwirken möchte, ohne selbst etwas geregelt zu kriegen, der Wirtschafts- und Energieminister tritt derart saft- und kraftlos auf, dass man befürchten muss, er verliere jeden Moment den Faden oder schläft ein, und den anderen Studentinnen im Kabinett wünscht man, sie würden zuerst ihr Abitur (nach- oder noch einmal) machen und etwas im Leben auf die Beine stellen, ehe sie uns mit ihren Ideen beglücken. Etwas im Hintergrund blieb bisher der Digitalminister: In seinem anderen Ressort, dem Verkehr, kann er auf regionalen und lokalen Ebenen getrost alle Entscheidungen den Auto-Lobbyisten und Industrie-Mitläufern überlassen und im schlimmsten Fall mal eine Blitzerkolonie auf die Straße schicken, doch in der Digitalität – einer Disziplin, die man im Gegensatz zum Autobauen lieber den Amerikanern und Chinesen überlässt – kann er maximal als Blinder unter Einäugigen glänzen.

Grundsätzlich bin ich der Ansicht, dass der Herr Wissing ungefähr 30 Jahre zu spät kommt – doch damit auch wieder rechtzeitig, um Irrwege, die andere bereits gemacht haben, zu vermeiden. Aber weit gefehlt, zumal wir mittlerweile wissen: Soziale Medien, virtuelle Blasen und sich selbst steuernde IT hebeln vom selbstständigen Denken über kreative Eigenleistungen bis hin zu ganzen Demokratien so ziemlich alles aus, was für ein soziales Miteinander wichtig ist und der Datenschutz („die Geister, die ich rief...“) bildet ein anschauliches Kapitel, um das der gute Franz Kafka sein Schloss sicherlich noch erweitern würde, wenn er erleben könnte, was für anonymisierte PC- und Smartphone-Sklaven aus uns gemacht werden. Auch ich habe derzeit einen fremdgesteuerten EDV-Arbeitsplatz, der mir – nachdem ich mich über ein Jahr in der künstlerischen Selbstständigkeit erholen konnte – wie ein Rückfall ins 20. Jahrhundert vorkommt. Wenn ich meinen Gerätepark anschalte, werde ich mit Sicherheitseinrichtungen konfrontiert, die alle anderen reinzulassen scheinen, nur mich nicht. Allein die vielen täglich variierenden URLs, die in meiner Angebotsliste erscheinen, obwohl ich selbst sie noch nie eingegeben oder aufgerufen habe, während die einzige URL, die ich jeden Tag mehrmals benötige, von meinem digitalen Gedächtnis offensichtlich sofort wieder vergessen wird, finde ich irritierend – als wenn jede Nacht jemand heimlich an meinem PC herumgoogelt. Klasse finde ich auch, dass mich am Telefon eine weibliche Microsoft-KI-Stimme (der ersten Generation) begrüßt und nach Drücken einer bestimmten Handytaste – natürlich auf meinem privaten Smartphone – auf meiner Arbeitsplattform einloggt. Ich frage mich, ob den Verantwortlichen in meinem Unternehmen eigentlich bekannt ist, dass unsere Daten bei diesem US-Konzern ungefähr so sicher wie ein über Nacht unabgeschlossen abgestelltes Fahrrad sind.

Besonders originell ist der IT-Umgang mit Namen: Da werden einfach Sonderzeichen abgeschafft, die seit Jahrhunderten in unsere Schriftkultur gehören. Und wenn man sie doch eingibt, ändert das digitale Eigenleben sie einfach eigenmächtig – oder stehen da echte Menschen dahinter, die das bewusst falsch machen? Aus meinem „Abée“ wird mal ein „Abee“, dann ein „Abèe“, oder auch mal ein „Abeè“ – es gab auch schon „Abeé“. Egal, wie oft ich den Namen korrekt in irgendwelche Personalbögen eintrage, der Fehlerteufel terrorisiert mich weiter, sodass alleine das Einloggen mit in welcher Form auch immer falsch einprogrammiertem Namen zur Tortur werden kann, die gerne mal mit drei Fehlversuchen und anschließender Account-Sperrung endet. Ruhe ist erst, wenn ich kapituliere und sage: „Ich werde eigentlich mit „accent aigu“ geschrieben, aber egal, dann eben ganz ohne was über den „es“.

Ja, ich habe dazugelernt und rege mich ebenso wie meine Kollegen lediglich über unsere EDV auf, anstatt der Firmenleitung mögliche Optimierungsvorschläge zu unterbreiten. Oder ich rechne kurz durch, wie viel tausend Euro das Unternehmen täglich durch die handgabungsfeindliche und fehleranfällige Technik verlieren dürfte. Doch damit bin ich schon in die Falle getappt – wozu soll ich mir in meiner Gehaltsklasse einen Kopf zerbrechen, den “die da oben” nicht mal zu benutzen scheinen?

Also schaue ich lieber in mein E-Mail-Fach und finde News zur Wahl des Betriebsrates, einen (nach Ausfüllen nicht mehr veränderbaren) 7-Minuten-Evaluationsparcour zur Mitarbeiterzufriedenheit sowie den Vorschlag, mit Unternehmenseintritt doch auch gleich in die Gewerkschaft einzutreten. Hut ab – was werden uns heutzutage als Mitarbeiter nicht für fantastische Möglichkeiten geboten, uns gegen unzumutbare Arbeitszeiten, unvorteilhaft platzierte Kopierer oder mangelhafte Teeküchenausstattungen zur Wehr zu setzen. Nur unsere Arbeitstechnologien, die kommen über uns wie eine biblische Plage, gegen die wir kleinen Lichter unter Gottes hell strahlender Sonne nichts ausrichten können. Wie durch Zauberhand ist an dieser Stelle unseres ach so rational durchorganisierten Lebens anscheinend etwas oder jemand zwischengeschaltet, das oder der unerreichbar weit weg sitzt und unsere Geschicke bestimmt wie ein Marionettenspieler. Oder ist das alles nur Verschwörungsgefasel – so wie die Nummer mit der Dreifaltigkeit?

Was hat das nun alles mit einem “Digitalminister” zu tun? Soviel sei verraten: Er ist es nicht, der zwischen uns und “ganz oben” geschaltet ist – bis auf sein Amt ist er nicht mehr als einer von uns. Doch kraft eben dieses Amtes ist er nun mal auch dafür verantwortlich, dass Datenschutzgesetze und -verordnungen relevanter sind als die Daten selbst. Anders kann ich mir nicht erklären, dass dieses obskure Monstrum namens “Daten” zwar in bisweilen absurdem Maße geschützt wird, wir selbst jedoch einmal erfasste oder erhobene Daten oftmals nicht beeinflussen oder auch nur an sie herankommen können.

Völlig surreal wird es, wenn niemand mehr Zugriff auf “unsere” Daten hat – sie verschwinden dann einfach in irgendwelchen “Wolken”, Magnetfeldern oder schwarzen Löchern. Und damit gibt es sie nicht mehr? Von hier bis zu dem Punkt, dass es auch uns nicht mehr gibt, ist es dann nur noch ein kleiner Schritt. Denn wenn unsere Daten schützenwerter als wir selbst sind, braucht es uns ja auch nicht mehr zu geben, wenn sie wirklich mal verlustig gehen.

Es schließt sich die philosophische Frage an, ob es diesem Planeten zumindest ein bisschen besser ginge, wenn es statt uns nur noch Daten gäbe. Frei nach dem Motto: “Nach uns die Datenflut”.

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