Wer ist verantwortlich für die Folgen des Klimawandels? Allen voran die Rohstoffunternehmen, klar. Aber wer zieht sie zur Verantwortung? Schon schwieriger. Die Politik ganz sicher nicht. Die Regierungen lassen sich ihre Agenda bei den UN-Klimaverhandlungen von Großkonzernen diktieren, die Niederlande von Shell, Großbritannien von BP. In den Akten ließe sich das eindeutig nachlesen. Lili Fuhr, Referentin für Internationale Ökologiepolitik der Heinrich-Böll-Stiftung, weiß das zu berichten. Seit 2006 ist sie bei den Verhandlungen vor Ort. Das muss frustrierend sein.
„Ich bin ja frustriert!“, gab Lili Fuhr im Juli vor vollem Haus in Berlin zu. Im Heimathafen Neukölln saß sie auf dem Podium der ersten sogenannten Vorverhandlung zum Th
ung zum Thema Ökologie, einer Gesprächsreihe mit Experten im Vorfeld des Kapitalismustribunals. Bei der zweiten Diskussionsrunde zur Ökonomie saß Graeme Maxton, Generalsekretär des Club of Rome, mit auf der Bühne und beklagte die Ignoranz der Politiker, die wider besseres Wissen handelten und gar nicht erst versuchten, die Märkte zu klimafreundlicheren Lösungen zu zwingen. Auch Maxton kennt also den Frust. Ausgedacht hat sich das Kapitalismustribunal das Haus Bartleby, selbsternanntes „Zentrum für Karriereverweigerung“. Die von der Medienschaffenden Alix Faßmann und dem Dramaturgen Anselm Lenz ins Leben gerufene kleine Neuköllner Initiative hat sich Herman Melvilles Helden als Paten ausgeguckt. Der Anwaltsgehilfe lehnte in der Erzählung Bartleby the Scrivener aus dem Jahr 1853 mit dem Hinweis „I would prefer not to“ nach und nach jede Arbeitstätigkeit ab und verweigerte sich schließlich ganz dem Leben. Bislang konzentrierte sich die Initiative vor allem auf den alten „Idleness“-Gedanken, den Müßiggang als Ausweg aus den Abhängigkeiten, die durch Arbeit entstehen.Nun stellt das Haus Bartleby auf capitalismtribunal.org die Frage, ob der Kapitalismus ein Verbrechen ist, und versucht Schuldige auszumachen. Jede und jeder kann mitmachen. 116 Anklagen sind eingegangen: gegen Industriezweige wie die Automobil- und Rüstungswirtschaft, konkrete Unternehmen, die Bundesregierung und einzelne Politiker, das Jobcenter oder auch gegen den Konsumenten, den Egoismus, die Arbeitsethik – die Liste ist bunt.GrößenwahnsinnigerDoch dabei soll es nicht bleiben. Fachleute werden die Anklagen, soweit möglich, in juristische Sprache übersetzen und prüfen müssen, ob es sich tatsächlich um strafrechtlich relevante Verstöße handelt. Denn das Vokabular („Tribunal“, „Verbrechen“, „Anklage“, „Schuldige“) weist darauf hin, dass es dem Haus Bartleby um Strafverfahren geht. Verhandelt wird dann während einer fingierten Gerichtswoche im Frühjahr 2016 in Wien. Echte Juristen sollen dort die Rolle der Ankläger und Verteidiger übernehmen, eine Jury wird am Ende der Prozesse ein Strafmaß festlegen.Das Ganze erinnert an Milo Rau und sein Kongo Tribunal. Der Theaterregisseur verbindet politischen Aktivismus mit den Mitteln der Kunst und eröffnete unlängst symbolische Verfahren zu den Massakern im Kongokrieg um Rohstoffe, nachdem er in der Vergangenheit bereits den Pussy-Riot-Fall in Moskau neu aufgerollt hatte. Allerdings konzentrierte Rau sich jeweils auf ein Thema, und an seinen inszenierten Prozessen nahmen Personen teil, die an dem realen Konflikt beteiligt waren. Das Haus Bartleby agiert weitläufiger – gemessen an der Anklagenliste ließe sich auch sagen: größenwahnsinniger – und scheint unentschiedener zu sein, ob es sich zuerst in einem künstlerischen oder politischen Kontext sieht. Theatrale Inszenierungselemente irritierten die sonst sachliche Diskussion in den Vorverhandlungen.Die Parallele zu Rau liegt darin, dass in beiden Fällen neue, wenn auch nicht mit Rechtsmacht ausgestattete Räume eröffnet werden, um Unrecht zu verhandeln. Moderator Jörg Petzold äußerte im Heimathafen mehrmals den Wunsch nach echter Gerechtigkeit und formulierte damit auch sein eigenes Unbehagen. Gefühltes Recht und tatsächliche Rechtsprechung klafften allzu oft auseinander. „Und ich habe das Bedürfnis, das wieder zusammenzubringen“, sagte Petzold. „Ich habe das Bedürfnis, wenn Evidenz besteht, das ist schlecht, das schadet, das macht kaputt, dass man da ganz klar juristisch vorgehen kann. Was braucht es dafür?“Das Tribunal scheint sich bei der Suche nach einer Antwort auf bestehende Rechtsgrundlagen stützen zu wollen. Ganz anders als etwa die umstrittenen TTIP-Schiedsgerichte, ebenfalls parallele Gerichtsbarkeiten, die sich der öffentlichen Rechtsmacht zu entziehen versuchen. Da stellt sich die Frage, warum die Anklagen nicht gleich einem offiziellen Gericht vorgelegt werden. „Wir wollen ermöglichen, dass jeder Mensch auf seine Art anklagen kann“, erwiderte Petzold. Es gehe darum, die Hürden niedrig zu halten. Doch Sinn ergibt dieses Tribunal tatsächlich nur, wenn man an das vorhandene Recht als Verhandlungsgrundlage glaubt.Die Juristin und Anthropologin Carolijn Terwindt, die für das European Center for Constitutional and Human Rights arbeitet, markierte als Gast auf dem ersten Podium zwei entscheidende Punkte: „Das Recht ist zwar langsam, aber offen für Weiterentwicklung.“ Die gute Nachricht lautet also, es ist veränderbar. Und: „Das Verständnis davon, was ein Verbrechen ist, ist zutiefst sozial.“ Recht ist also abhängig von Narrativen und hat viel mit Deutungshoheit zu tun.Vorbild für das Kapitalismustribunal könnte der peruanische Kleinbauer Saúl Luciano Lliuya sein, auch wenn es in seinem Fall um Zivilrecht geht. Lliuya erlebt den Klimawandel in den Anden ganz real. Das Wasser eines durch die Erderwärmung immer schneller schmelzenden Gletschers droht seine Heimatstadt irgendwann wegzuspülen. Nun will er mithilfe der Umweltschutzorganisation Germanwatch den deutschen Energiekonzern RWE auf Vorsorge gegen die Folgen des Klimawandels verklagen. Eine Annahme der Klage wäre juristisch einmalig, bislang sind alle Versuche gescheitert, die Verursacher des Klimawandels vor Gericht zur Verantwortung zu ziehen. Im März ging die Geschichte durch die Medien, Lili Fuhr erzählte davon im Heimathafen.Sie hat aber auch ein ernüchterndes Beispiel für einen Paradigmenwechsel in der Umweltpolitik parat. Erfolgreiche Schutzgesetze würden zunehmend entkräftet. Die Regierung im westafrikanischen Gabun etwa habe ein Gesetz geschaffen, nach dem sich bald community credits, die Rechte der lokalen Bevölkerung, ausgleichen ließen, indem man Wald- oder Klimaschutz betreibt. Diese Logik, sagt Fuhr, verbreite sich zunehmend auch in der EU, wo die Zerstörung von Biodiversitäten an einem Ort durch Erhalt von Biodiversitäten an einem ganz anderen Ort ausgeglichen werden können soll. Entscheidend sei dann letztlich der Geldwert, wie schon beim Emissionshandel, so kommt die Finanzmarktindustrie dann verstärkt ins Spiel.Hilfe vom Club of RomeTrotzdem wird die Auseinandersetzung vielerorts gesucht, nicht selten von indigenen Gruppen. Länder, die schon heute vom Klimawandel unmittelbar betroffen sind, seien sehr viel progressiver in ihrer Rechtsauslegung als europäische, merkte Carolijn Terwindt an. Sie plädierte dafür, die Narrative und die Deutungshoheit nicht den Gegenspielern zu überlassen. Dafür braucht es viele. Ein Arbeiter, der sich im Heimathafen zu Wort meldete, fühlte sich zwischen all den vermeintlichen Mittelständlern wohl zu Recht unterrepräsentiert. Aber auch eine andere soziale Schicht war nicht zu hören und kam in den Diskussionen schlecht weg: die mit Einfluss und Geld. Pauschal und reflexartig Reiche zu verdammen, verbaut jedoch Chancen, den Druck zu erhöhen. Entscheidend wird auch sein, welche Juristen das Haus Bartleby verpflichten kann. Ohne ihren Sachverstand blieben die Anklagen wirkungsschwache Kritik. Bislang hat die Initiative das Tribunal aus eigenen Mitteln finanziert, jetzt unterstützen es die Rosa-Luxemburg- und die Heinrich-Böll-Stiftung in kleinem Rahmen. Der Club of Rome hilft beim Konzept.Die dritte und letzte Vorverhandlung Anfang Oktober wird nach Ökologie und Ökonomie nun das Recht selbst in den Mittelpunkt stellen. Und genau da scheinen sich ja Hebel betätigen zu lassen, um der enthemmten Wirtschaft und ihren Folgen beizukommen. Vorausgesetzt, es gibt findige Juristen und eine starke Lobby. Vielleicht schafft es ja auch ein Fall, der kommendes Jahr beim Wiener Tribunal verhandelt werden wird, vor ein reales Gericht – und bewirkt so tatsächlich Veränderung.Placeholder infobox-1
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