Nicht ohne Örtchen

Frauenbewegung In Indien fordern Frauen von ihren Ehemännern einen Haushalt mit eigener Toilette
Sorgte mit ihrem Protest landsweit fürs Aufsehen: Priyanka Bharti bei der feierlichen Rückkehr zu ihrem Mann
Sorgte mit ihrem Protest landsweit fürs Aufsehen: Priyanka Bharti bei der feierlichen Rückkehr zu ihrem Mann

Foto: Prakash Singh/AFP/Getty Images

Vishunpur Khurd ist ein kleines Dorf in Nordindien. Rund 360 Menschen leben hier, etwa so viele Männer wie Frauen – doch eine von ihnen nahm im Frühjahr dieses Jahres Reißaus. Wenige Tage und gedankenschwere Nächte nach ihrer „Gauna“, der traditionellen Zeremonie zum Einzug der Braut in das Haus ihres Ehemannes, entschloss sich Priyanka Bharti zu ihren Eltern zurückzukehren. Dafür nannte sie einen einfachen Grund: Es gab keine Toilette in ihrem neuen Heim.

Eine NGO wurde auf Priyanka Bharti aufmerksam – und dann auch die überregionalen indischen Medien. Sie bejubelten die mutige Entscheidung der 19-jährigen Inderin, die bereits als Kind verheiratet worden war und nun mit ihrem Mann zusammenleben sollte. Der ist dabei nur einer von 626 Millionen Indern ohne Sanitärversorgung. Das galt bislang bei Weitem nicht als Trennungsgrund. Im nordindischen Bundesstaat Uttar Pradesh, in dem Bharti lebt, gehen noch 40 Prozent der Bevölkerung einfach ins Freie, um ihre Notdurft zu verrichten. Doch genau das konnte Bharti sich nicht vorstellen und flüchtete. „Meine Eltern waren besorgt und wütend, aber ich überzeugte sie davon, dass ich das tun musste. Sie selbst haben eine einfache Innentoilette, für mich war es also zu schwierig, plötzlich nach draußen zu gehen“, wird sie in den indischen Zeitungen zitiert.

Und sie ist mit ihrem Widerstand nicht allein. In der Öffentlichkeit steht seit Kurzem auch Anita Bai Narre. Sie verließ ebenfalls zwei Tage nach ihrer Hochzeit das Haus ihres Mannes, und machte eine Toilette zur Bedingung für ihre Rückkehr. Die beiden sind die bekanntesten Frauen mit dieser Geschichte, aber nicht die einzigen.

Spaßnachrichten zum Toilettentag

Sie könnten am Beginn einer sozialen Bewegung stehen. Die wird dringend gebraucht. Wie dringend, das geht hierzulande oft in Spaßnachrichten zum „Welttoilettentag“ am 19. November unter. Dann wird über das Sanitärthema zwar geredet, aber eher mit einem humoristischen Unterton und wenig Bewusstsein dafür, welche Folgen das Problem in einem Land wie Indien hat: Dort sterben 1.000 Kinder täglich an vermeidbaren Durchfallerkrankungen. Die jährlichen Gesundheitskosten, die durch den Mangel an angemessenen Sanitäranlagen verursacht werden, schätzt die Weltbank auf über 50 Milliarden Dollar.

In Indien hocken viele Männer ungeniert in Straßengräben, hinter Bäumen oder entlang der Bahngleise. Frauen müssen dagegen Bauchkrämpfe ertragen, denn sie haben entlegenere Gegenden aufzusuchen oder verschieben ihre Notdurft auf nachts. Dann werden sie aber häufig belästig.

Hinzu kommt ein weiteres Problem, das die Menstruation betrifft. Weil die Periode in weiten Teilen des Landes tabuisiert und mit Unreinheit oder Unheil konnotiert wird, sind Binden oder Tampons lange nicht für jede Frau zu haben. Doch selbst wenn Hygieneartikel vorhanden sind, wo sollten Frauen sie ohne Toilette wechseln? Da nicht nur in vielen Haushalten, sondern auch an öffentlichen Orten wie Schulen häufig keine oder keine zumutbaren Anlagen vorhanden sind, kommen Mädchen nicht zum Unterricht, gehen Frauen oft nicht zur Arbeit.

Einer, der verstanden hat, dass es beim Thema um die Achtung indischer Frauen geht, ist Jairam Ramesh. Der Minister für ländliche Entwicklung, der bis zur jüngsten Kabinettsumbildung auch das Wasser- und Sanitärministerium verantwortete, hat Indiens Toilettenproblem ganz oben auf seine Agenda gesetzt. Kürzlich tourte er mit einem Wanderzirkus der deutschen NGO WASH United und der indischen Quicksand-Agentur durch fünf Bundesstaaten. Dabei ging es mithilfe eigens entwickelter Spiele, Songs und Bühnenshows sowie mit Messerschluckern und Magiern um die Aufklärung der Besucher rund um die Hygiene. „Sanitärversorgung steht im Zusammenhang mit der Sicherheit und der Würde von Frauen“, sagte Ramesh am Rande des Zirkus. „Zugleich wird immer deutlicher, dass schlechte sanitäre Bedingungen und schlechte Hygiene für Unterernährung mitverantwortlich sind. Es zählt beides, der soziale und der gesundheitliche Aspekt.“

Wichtiger als Tempel

„No toilet, no bride.“ Auf diese Formel hat es Ramesh gebracht und dabei auch an Priyanka Bharti und Anita Bai Narre gedacht. „Ihr befragt Astrologen zu den Planetenkonstellationen, bevor ihr heiratet. Ihr solltet bei eurer Entscheidung aber auch darauf achten, ob euer Bräutigam eine Toilette besitzt“, forderte er Frauen auf. Und machte sich damit nicht nur Freunde. Schließlich sei es eine Benachteiligung der Armen, denen die Mittel dafür fehlten, sagten seine Kritiker. Als der Minister anmerkte, dass Toiletten wichtiger als Tempel seien, gab es einen Aufschrei – nicht nur bei den Hindunationalen. Ihm wurde wohl deswegen das Ministerium für Wasser- und Sanitärversorgung entzogen. Dabei hatte schon Gandhi einst erklärt, es gäbe zuviel Heiligkeit und zu wenig Sauberkeit in seinem Land.

Doch langsam tut sich was. Das Thema verlässt die Tabuzone, die Schweigemauer bröckelt. Und aufbegehrende Frauen haben einen großen Anteil daran. Priyanka Bharti wohnt inzwischen wieder im Haus ihres Mannes. Als sie zurückkam, war die neue Toilette blumengeschmückt. „All die Jahre sah ich meine Schwester und meine Mutter jeden Morgen in die Felder gehen”, sagte der Ehemann, „aber es kam mir nie der Gedanke, wie beschämend das ist, bis meine Frau ein Zeichen setzte und wegrannte“.

Die indischen Medien feierten die Familienzusammenführung, und sowohl Bharti als auch Anita Bai Narre wurden inzwischen ausgezeichnet für ihre Courage. Bai Narre ist ebenfalls zur ihrem Mann zurückgekehrt. Ihre Entschiedenheit hatte sich schnell herumgesprochen, in der Dorfgemeinschaft und in der Region. Sie hat viele Nachahmerinnen gefunden und Menschen überzeugt – etwas, was Regierungskampagnen häufig nicht gelingt. Mittlerweile gehört in dem Dorf Ratanpur, in dem Anita Bai Narre wohnt, eine eigene Toilette fast zur Norm.

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Geschrieben von

Cara Wuchold

Kulturjournalistin

Cara Wuchold

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