Robins Hood

Berlinroman Dem System die Stirn: Torsten Schulz macht einen Makler zum Helden
Ausgabe 12/2018
Da oben soll einer stehen, der einen kennt, der einen kennt, der die Wohnung schon gesehen hat
Da oben soll einer stehen, der einen kennt, der einen kennt, der die Wohnung schon gesehen hat

Foto: Imago

Gerne streift Matthias durch die Straßen Berlins, am liebsten durch das Skandinavische Viertel im Nordwesten von Prenzlauer Berg. Das Viertel ist für ihn auch deshalb so interessant, weil eine unüberwindbare Grenze so nah ist, nämlich die Berliner Mauer. Wir schreiben die 1970er Jahre, und ein neunmalkluger Knirps nimmt es mit zwei Grenzposten auf, foppt sie mit seinem Wissen über die Straßennamen in seinem Lieblingskiez. Waren die Grenzer erst noch zugewandt, schlägt die Stimmung bald um; die Uniformierten drohen damit, ihn festzunehmen. Als hätte Matthias nur darauf gewartet, holt er sogleich zum Gegenschlag aus: Sein Onkel sei Funktionär bei den Grenztruppen, wenn sie ihn nicht laufen ließen, bekämen sie großen Ärger. Die Grenzer lassen von ihm ab. Und die Lüge verschafft dem Bengel ein „berauschendes Gefühl“.

Clever gebautes Stück Prosa

Der neue Roman von Torsten Schulz, der mit seinem Erfolgsbuch Boxhagener Platz (2004) schon einmal seine Heimatstadt literarisch erkundet hat, beginnt mit einer starken Szene, auf die weitere folgen in diesem clever „gebauten“ Stück Prosa. In Skandinavisches Viertel zeigt Schulz, wie man Figuren einprägsam vorstellen und sie kurzerhand wieder verschwinden lassen kann, wie Themen und Motive konsequent bespielt werden, immer mit einem Augenzwinkern und zugleich mit großem literarischen Ernst. Womit wir bei Onkel Winfried wären, der schlagfertiger ist als alle anderen in der Familie, der etwas vom Zaubern versteht und der leider ein Trinker ist. Von den Lügen des Neffen ist Winfried allerdings nicht berauscht. Was den Jungen ärgert. Statt mit ihm über Helsinki und all die interessanten nordischen Namen in seiner städtischen Spielzone zu reden, zeigt der Onkel ihm lieber eine vermeintlich unberührte Schnapsflasche, die hinter Putzlappen versteckt ist. Matthias verpfeift den Onkel bei seinem Vater, was umso schwerer wiegt, hat der Onkel der Oma doch versprochen, nie wieder zu trinken.

Verrat und Lüge scheinen in dieser Familie große Wirkmächte zu sein, die im mörderischen Zwangssystem der Nazis genauso wie im Spitzelstaat der SED gedeihen konnten. Matthias wird noch viele Fragen stellen müssen, bis er den Verstrickungen seiner Verwandtschaft auf den Grund kommt. Nach beruflichen und privaten Fluchten begreift der erwachsene Matthias allmählich, wie sehr ihn die Familiengeheimnisse geprägt haben, wie anfällig gerade Menschen für Verrat und Lüge sind, die in repressiven Systemen die Freiheit suchen. Seine etwas eigenwillige Selbsttherapie besteht nun darin, an den Ort seiner Kindheit zurückzukommen und dort als Immobilienmakler der ganz anderen Art für ein wenig Ausgleich auf dem rücksichtslosen Wohnungsmarkt zu sorgen. Statt freiwerdende Immobilien an Wohlhabende aus dem Westen oder noch reichere Russen zu vermakeln, sind für ihn Bedürftigkeit und Sympathie das entscheidene Kriterium. Wiederum aus einer Mischung aus Hybris und seiner weiterhin ausgeprägten Lust am Spiel beginnt er im Skandinavischen Viertel einen hoffnungslosen Kampf, sein Geschäftsgebaren ist dabei auf drollige Weise rational und irrational zugleich, Matthias widersetzt sich der kapitalistischen Verwertungslogik, er verzichtet sogar auf höhere Provisionen.

Als Leser sollte man nicht den Fehler machen, neben der sympathischen Seite der Figur den von Ressentiments angetriebenen gezeichneten Charakter zu übersehen. So droht nämlich Matthias’ sympathischer Impuls, dem ökonomischen System die Stirn zu bieten, in eine durchaus regressive Haltung umzuschlagen: Wer weder versnobte Russen noch spießige Süddeutsche im Kiez haben möchte, wird auch keine Flüchtlinge oder andere Fremden tolerieren, denn die angestammte Uniformität des Heimatviertels soll ja um jeden Preis erhalten werden.

Zum „Maklerherrschaftsprinzip“, wie Matthias seine Methode nennt, gehört zudem, dass er seine Geschäftstermine nutzt, um eine Frau nach der anderen aufzureißen. Doch die Herzensdamen verschwinden schnell wieder, ohnehin scheint alles im Übergang zu sein: Staaten lösen sich auf, Stadtviertel verändern sich, Mieter kommen und gehen, und in der Verwandtschaft wird ständig gestorben.

Torsten Schulz erzählt in seinem Roman eine Geschichte von Vergänglichkeit, und weil er sich als Erzähler weitgehend zurückhält und seine Figuren nicht auktorial kommentiert, erhalten sie ihren nötigen Raum, um Selbstbetrug und Schuldkomplexe wahlweise aufzuarbeiten oder zu verdrängen und die daraus resultierenden Projektionen und Machtphantasien weiter auszubreiten.

Fertig fürs Verfilmen

Das Ende der DDR führt selbstverständlich nicht zum Bruch mit alten Gewohnheiten. Auch in der neuen politischen Ordnung können sich schwierige Charaktereigenschaften wieder entfalten. Als Erwachsener kann Matthias seinen flexiblen Umgang mit der Wahrheit endlich zur Verkaufsstrategie machen: Nein, das Haus ist schon verkauft, sagt er, dabei passt dem Makler bloß die Nase des Interessenten nicht. Im Job wird gelogen, privat wird verdrängt. Statt über Vergangenes in der Familie zu sprechen, werden dunkle Geheimnisse verschwiegen, bis die Menschen, die sie betreffen, unter der Erde sind.

Torsten Schulz, der Professor für Dramaturgie an der renommierten Hochschule für Film und Fernsehen Konrad Wolf in Potsdam-Babelsberg und Autor von preisgekrönten Filmen ist, kann darauf setzen, dass auch aus seinem neuen Roman ein gutes Drehbuch werden kann. Denn der Stoff hat alles, was ein deutsch-deutscher Spielfilm zum Erfolg braucht: eine Komik bietende Fallhöhe, einen ernsten historischen Bogen, der durch die deutschen Staaten des 20. Jahrhunderts bis in die Gegenwart reicht, und die authentische Erzählung eines Milieus, in dem Menschen leben und leiden, die sich nicht wirklich aus ihrem Familienzusammenhang lösen können. Vor allem aber eine originelle Hauptfigur, über die wir schmunzeln können und die uns gerade in ihrer konsequenten Verschrobenheit einen Spiegel vorhält.

Info

Skandinavisches Viertel Torsten Schulz Klett-Cotta 2018, 265 S., 20 €

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