Was ist schlimmer: Erfrieren oder vom Zug überrollt werden? Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) sind offenbar der Meinung, letzteres sei grausamer. Lange Zeit hatte die BVG bei Außentemperaturen unter zwei Grad nachts einige U-Bahnhöfe für Obdachlose geöffnet. Weil in den vergangenen drei Jahren mehrere Wohnungslose überfahren wurden, werde man die Bahnhöfe in diesem Winter nach Betriebsschluss geschlossen halten, teilte BVG-Chefin Sigrid Nikutta mit.
Berlins Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linkspartei) will nun einen vor zehn Jahren stillgelegten Fußgängertunnel am Alexanderplatz für Obdachlose öffnen. Die Sprecherin der Sozialverwaltung sagte dem Tagesspiegel, es müssten dort zunächst Umbauarbeiten stattfinden. Nun kam der Kälteeinbruch keineswegs überraschend. Trotzdem hat der Senat nicht rechtzeitig dafür gesorgt, dass im Winter niemand draußen übernachten muss. Jetzt sind die U-Bahnhöfe dicht, und die ehrenamtlich tätige Kältehilfe kommt (wieder einmal) kaum hinterher, die Versäumnisse der Politik aufzufangen.
Während in der Bundeshauptstadt immerhin die Frage im Raum steht, wie Obdachlosigkeit nicht zum Tod führt, bläst Dortmund zum Angriff gegen Obdachlose. Laut Informationen des WDR wurde in diesem Jahr bereits 265 Mal ein „Verwarngeld“ von 20 Euro gegen Wohnungslose erhoben, weil die nordrhein-westfälische Stadt es nicht mehr dulden möchte, dass Menschen auf der Straße übernachten. Wer die Strafe nicht zahlen kann oder will, kann im Gefängnis landen.
Warum müssen so viele Menschen ohne Dach über dem Kopf leben?
Die Worte, mit denen Beate Siekmann auf die Kritik an diesem Law-And-Order-Kurs reagierte, lassen tief blicken. Man müsse eben handeln, wenn es Beschwerden aus der Nachbarschaft gebe, sagte die Chefin des Dortmunder Ordnungsamtes. Nirgends zeigt sich im Alltag die Verdrängungskunst des Menschen so wie beim Umgang mit Obdachlosen. In Großstädten sind sie überall zu sehen, und trotzdem gibt es weder in der Politik noch in den Medien eine nachhaltige Debatte darum, warum so viele Menschen ohne Dach über dem Kopf leben.
Zeitungen, Radio und Fernsehen berichten ungern darüber, weil das Thema nicht „sexy“ genug ist. Im Falle der Politik liegen die Dinge schon komplizierter. Denn offensichtlich handelt es sich hier um ein Problem der Demokratie. Welchem halbwegs zu Empathie fähigen Menschen ist es schon egal, wenn jemand friert? Obdachlose sind aber meist Nichtwähler. Damit rangieren sie jenseits des Radars der Amtsträger. Die sind bestenfalls darauf bedacht, dass Obdachlose nicht wegen ihrer Wohnungslosigkeit sterben. Denn das wäre für die Presse wiederum äußerst „sexy“. Eine entsprechende Skandalisierung zöge für die Politik einen Imageschaden nach sich – vor allem dann, wenn die Sozialsenatorin einer linken Partei angehört, wie es in Berlin der Fall ist.
Außerdem wird Obdachlosigkeit oft unbewusst als individuelles Fehlverhalten interpretiert. Wer keine Leistung erbringt, muss eben mit dem Absturz rechnen, so die Logik. Das senkt die „Sexyness“ des Themas nochmals und versieht Obdachlose in der Aufmerksamkeitsökonomie mit einem moralischen Nachteil. Den teilen sie mit sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen. Und er trennt sie von Kriegsflüchtlingen, die im Diskurs auffallend trennscharf neben Kindern, Alten oder Kranken als einzige Gruppe erscheinen, die legitimerweise Hilfe erwarten darf.
Die simple Sozialpsychologie des Kapitalismus
Wobei selbst Kriegsflüchtlinge und Obdachlose mit plausibler Absturzgeschichte ihre Drangsal entsprechend performen müssen. Ein junger Geflüchteter mit Smartphone bringt die Volksseele zum Kochen, während ein in Lumpen gewickeltes und unterernährtes Kind die Herzen erweicht. Wer in der U-Bahn einen womöglich auch noch nach Alkohol (Dekadenz!) riechenden Obdachlosen selbstbewusst Geld einfordern hört, wird eher nicht das Portemonnaie zücken. Dagegen darf jeder mit einer milden Gabe rechnen, der aussieht, als sei er einem Roman von Charles Dickens entsprungen.
Wer sich mit Obdachlosen unterhält, erfährt schnell, warum so viele von ihnen einen Hund haben. Am wichtigsten ist es natürlich, einen treuen Begleiter bei sich zu wissen, der jene Wärme schenkt, die diese Gesellschaft einem vorenthält. Es liegt aber auch daran, dass die Spendenbereitschaft der Passanten steigt, wenn sie einen Wohnungslosen mit Tier sehen. Das arme Ding kann demnach ja im Gegensatz zu diesem Menschen wirklich nichts dafür. So einfach funktioniert manchmal die Sozialpsychologie des Kapitalismus. Solange die herrschende Meinung in diesem Sinne einen Unterschied vornimmt zwischen verschuldeter und unverschuldeter Armut, wird sich am verächtlichen Blick auf Obdachlose nichts ändern.
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