Ohne Industriebrachen hätte die Kunst der letzten 60 Jahre anders ausgesehen. Leere Fabrikhallen sind als Ateliers, Off-Theater und Galerien die kreativen Kraftzentren westlicher Metropolen geworden und haben so auch inspirierend auf viele Künstler gewirkt. Seit einiger Zeit wird es jedoch eng. Die wenigen verwaisten Wirtschaftsgebäude, die es noch gibt, werden als Spekulationsobjekte hoch gehandelt. Nur die erfogreichsten Künstler und Galerien können sich das leisten. Wie lange die Symbiose von Industrieleerstand und künstlerischer Produktivität das noch überlebt, ist fraglich. Jedenfalls in Berlin. Im rund 50 Kilometer entfernten Luckenwalde entsteht gerade ein ganz neues Modell des Zusammenwirkens. Das ambitionierte Projekt mit dem Namen Kunststrom belebt ein stillgelegtes Elektrizitätswerk mit einer Idee, bei der Industrie und Kunst sehr konkret ineinandergreifen.
Neben halbjährlich wechselnden Ausstellungen, Ateliers und Werkstätten zu erschwinglichen Mieten soll das E-Werk, das seit der Wende geschlossen ist, auch wieder zur Stromversorgung aktiviert werden. „Kunststrom für alle“ heißt der Slogan von Künstler Pablo Wendel und Kuratorin Helen Turner, die gemeinsam die künstlerische Direktion verantworten. Der Künstler ist auch Initiator des Non-Profit-Kollektivs Performance Electrics gGmbH, das das Industriedenkmal 2017 erstand. Unter dem Namen „Kunststrom“ arbeitet Pablo Wendel schon seit einigen Jahren an der Schnittstelle zwischen Kunst und erneuerbaren Energien, entwickelte etwa Windskulpturen, die Strom erzeugen. Die Arbeit am E-Werk in Luckenwalde, das sich am Stadtrand als repräsentative Art-déco-Villa von neuen profanen Industriegebäuden deutlich abhebt, ist also eine Weiterentwicklung seiner bisherigen Arbeit.
Konzipiert ist das Haus als „soziale Skulptur“ und bereits vor der performativen „Power Night“ zur Eröffnung am 14. September war es von jungen Menschen bevölkert. Mit dem Work-away-Programm konnte man gegen Kost und Logis am Aufbau des Projekts mitwirken.
Künstler in die Industrie einzubinden, ist für Pablo Wendel eine Möglichkeit, den Launen des kommerziellen Kunstmarktes zu entkommen. Dass das E-Werk Strom produziert, macht wirtschaftlich also in erster Linie auch für die eigene Energieversorgung der Ateliers und Werkstätten Sinn, immerhin muss hier eine Fläche von über 10.000 m² unterhalten werden.
Langfristig ist geplant, den Strom auch in das Netz einzuspeisen, um Haushalte in der Umgebung mitzuversorgen. Die Einnahmen sollen dann in neue Kunstprojekte des E-Werks fließen. Am Eröffnungsabend wurden bereits heizbare Wandskulpturen von Nicolas Deshayes durch die selbst generierte Energie des Kraftwerks erwärmt.
Die gusseisernen, organisch geformten Objekte sind mit Rohren an das Heizungssystem des E-Werks gekoppelt. Dass Kunstinstallationen regelrechte Energiefresser sein können, wird einem so erst bewusst. Die Hauptbotschaft des Ausstellungshauses ist das aber sicher nicht, denn Kunst soll hier vor allem als Energiequelle, als Synergie sichtbar werden.
Spürbare Spannung
Die Metapher von der Kunst als Energie blitzt im E-Werk Luckenwalde immer wieder auf. Die Werke in der derzeitigen Ausstellung arbeiten explizit mit dieser Idee, neben den Heizungsskulpturen von Deshayes auch die Zeichnungen und Pfeilskulpturen der Arbeit Electric Blue von Lucy Joyce. Schließlich ist auch die Gewinnung des Stroms als Kunst oder symbolischer Akt zu verstehen, um auf die ökologischen und sozialen Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren. Dass der Kunststrom CO₂-neutral sein muss, versteht sich von selbst. Das alte Kohlewerk ist mittlerweile mit Pyrolysetechnik ausgestattet, bei der durch die Verbrennung von organischen Materialien wie etwa Holzabfällen Gas entsteht. Das Gas kann je nach Bedarf für die Wärme- und Stromversorgung angezapft werden.
Aus sozialer Sicht ist die Reaktivierung des Kraftwerkes ebenfalls nachhaltig, denn so wird an die Geschichte von Luckenwalde als wichtigem Industriestandort der 1920er Jahre angeknüpft. Das schafft eine Verbindung zu den Luckenwaldern, mit denen im wahrsten Sinne des Wortes genetzwerkt wird. Damit das Projekt aufgeht, sind sie unverzichtbar, denn irgendwann sollen sie den „Kunststrom“ ja beziehen. Außerdem ist die Expertise ehemaliger Arbeiter des Kraftwerks eine große Unterstützung. Sie kennen die Maschinen und helfen aktiv, das Werk wieder in Gang zu setzten. Jede Industrie, die in einer verlassenen Industriestadt wiederbelebt wird, ist Hoffnung.
Die Spannungen zwischen globalisierter Kulturelite und der brandenburgischen Kleinstadtatmosphäre spürt man dennoch, wenn man das Kunstzentrum in Luckenwalde besucht. Pablo Wendel und Helen Turner haben als internationale Kulturschaffende das E-Werk aber nicht einfach kolonialisiert. Wenn das Projekt in seiner Planung weiterhin aufgeht, könnte Kunststrom ein Modell sein, das nicht mehr nur randständige Industriegebiete von Großstädten aufwertet, sondern auch verlassene Kleinstädte mit neuen Impulsen belebt. Eine alte Hutfabrik liegt in Luckenwalde noch brach.
Info
Kunststrom E-WERK Luckenwalde, bis 28. März 2020
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.