Demokratie von oben

Affentänze Gerhard Schröder und die Endspiele der Sozialdemokratie

Noch ist unklar, unter welchem Label die momentanen Zuckungen der Sozialdemokratie in die Geschichte eingehen werden: als seltsame Seifenoper, als absurdes Theater oder einfach als Satyrspiel, Posse und Kasperlestück. Zu einem richtigen Schurkendrama Kohlscher Dimension (Die Parteienfinanzierung) reicht es nicht; zu einem glitschigen Lügenmärchen über die angeblich verlorene parlamentarische Mehrheit allemal.

"Ende, es ist zu Ende, es geht zu Ende, es geht vielleicht zu Ende" - so oder so ähnlich wird Gerhard Schröder lamentieren vor dem Bundestag, wenn er die Vertrauensfrage stellt mit dem erklärten Ziel, kein Vertrauen zu erhalten, eine Verhohnepiepelung seiner Wähler ohnegleichen - um über die Hintertür der Neuwahlen wieder auf die Regierungsbank zu gelangen, so unwahrscheinlich das auch sei. "Es geht vielleicht zu Ende", so spricht auch Hamm, die Hauptfigur in Samuel Becketts Fin de partie; ein bisschen blind ist er und ziemlich fußlahm in seinem Rollstuhl, was ihn allerdings nicht daran hindert, seinen Diener Clov ausgiebig zu malträtieren. Natürlich ist Schröder weder blind noch gelähmt, höchstens im übertragenen Sinne; allerdings teilt er mit der Beckett-Figur deren sadistische Lust, andere zu kujonieren - in Schröders Fall unter anderem eine Partei namens SPD.

Versetzen wir uns in die Lage eines normalen halblinken SPD-Bundestagsabgeordneten: alles hat er mitgemacht, jeden Nonsens mitgetragen, vom Kosovo-Krieg über die Homo-Ehe bis zu Gesundheitsreform, Hartz IV und Agenda 2010. Und jetzt soll er, der seinem Herrn sieben Jahre treu gedient, gegen die eigene Überzeugung immer mit der Fraktion gestimmt hat, auf Anweisung von oben dem Chef das Vertrauen verweigern. Wie mag es um die Selbstachtung dieser Personen bestellt sein? Der ärmste Schlucker, der voller Demut immer noch auf einen 1-Euro-Job hofft, damit sich demnächst auch ihm ein Arbeitsplatz auftue, hat wahrscheinlich mehr Selbstbewusstsein als diese disponible Bundestags-Masse. Gestern Kanzler-Wahlverein, heute Kanzler-Abwahlverein, wie´s gerade beliebt.

Nun gehörte das Lügen und Betrügen schon immer zu den Grundmechanismen des politischen Dramas; es gehört auch wesentlich zum parlamentarischen Alltagsgeschäft, natürlich nicht nur in der SPD. Jede Fraktion hat ihre Marinellis, die fürs Grobe zuständig sind. Sozialdemokratisch gesprochen: gestern Wehner, heute Münterfering. In den letzten Wochen hat sich allerdings gezeigt, dass in der Bundesrepublik jede Rückbindung an eine immerhin bürgerlich-demokratische Verfassung abhanden gekommen ist. Schröder muss nur vier oder fünf nibelungentreue Abgeordnete hinter sich bringen, um seine Mehrheit programmgemäß zu verlieren. Er muss nur den Bundespräsidenten überzeugen, dass das offensichtlich Verfassungswidrige seines Tuns politisch opportun ist. Eine einzige Person, Herr Horst Köhler, entscheidet sodann über die Frage, ob im September gewählt wird. Der vor seiner Inthronisierung weithin unbekannte Köhler bekleidet seinen Posten übrigens auf fast alleiniges Betreiben der potentiellen neuen Kanzlerin Angela Merkel. Falls ein paar widerspenstige Abgeordnete das Verfassungsgericht anrufen, entscheiden die Richter - Figuren, die auf ausdrücklichen Vorschlag der im Bundestag vertretenen Parteien im Amt sind, jener Parteien, die alle Neuwahlen herbeisehnen. Wir nehmen hohe Wetten auf die schlussendliche Entscheidung des Präsidenten als auch des Gerichts an. Oder, um es etwas salopper zu sagen: legal, illegal, scheißegal - die Überzeugungen der Hausbesetzer-Generation sind mittlerweile im politischen Establishment angekommen.

Versuchen wir einen Moment lang uns vorzustellen, wie die SPD früher mit einer verfahrenen Lage wie nach der verlorenen Nordrhein-Westfalen-Wahl umgegangen wäre: man hätte einen Sonderparteitag einberufen, die verfeindeten Lager hätten sich beharkt, man hätte Beschlüsse gefasst. Das Problem der SPD, eigentlich aus zwei Parteien zu bestehen, wäre offen zutage getreten. Wahrscheinlich hätte der Regierungs-Chef, dank geschickter Parteitags-Regie, seine inhaltlichen Anträge gegen den Arbeitnehmerflügel durchgebracht - also: Fortsetzung von Hartz IV und Agenda 2010. Dass Schröder eine Mehrheit erhalten hätte für den Antrag, auf obskure Weise Neuwahlen herbeizuführen, sprich: Selbstmord auf Raten zu begehen, ist allerdings kaum anzunehmen. Denn jedem Parteimitglied wäre klar gewesen, dass selbst eine gewonnene Bundestagswahl an der grundsätzlichen Problematik gar nichts ändern würde: SPD und Grüne hätten bestenfalls, unwahrscheinlicher Weise, weiter eine knappe Mehrheit im Bund, die CDU hätte weiter die Mehrheit in den Ländern. Das heißt: die de facto bestehende große Koalition aus SPD und CDU, die alle bundesrats-zustimmungspflichtigen Gesetze abgleichen muss, würde dann fortgesetzt. Das wäre ohne Neuwahlen allerdings auch so. Die angeblich segensreichen Effekte der Hartz-IV-Reform hätten sich dann noch über ein Jahr lang zeigen können, bis zum normalen Wahltermin im September 2006.

Dass Schröder nicht warten will, sondern lieber Poker spielt, hat mehrere Gründe. Er hat keine Lust mehr, will aber nicht einfach zurücktreten, sondern erpressen. Er liebt die große Pose, das Melodram. Er will entweder den tragischen, den theatralischen Abgang - als Held einer nicht zu Ende gebrachten Reform abtreten, auf dass man ihn nicht an seinen eigenen Kriterien messe, nämlich der Arbeitslosenzahl. Oder aber die minimale Chance nutzen, eine Mehrheit für Hartz IV zu bekommen - mit der alten Sozen-Daumenschraube: Unter der CDU wird´s noch schlimmer! Vor allem aber will er zeigen, dass in Deutschland Politik von oben gemacht wird. Man fragt nicht mehr die Partei, der man verantwortlich ist und deren Wahlprogramm man angeblich vertritt, man entscheidet allein im Kämmerlein, mit Adjudant Münte. Man setzt Fakten. Angela Merkel und Guido Westerwelle, die präsumptive neue Koalition, Vertreter der Kinderlosen-Generation, hoben in nächtlicher Konferenz Horst Köhler auf den Schild, der ihnen nun als Präsident nützlich sein wird. Schröder und sein Eckermann zaubern Neuwahlen aus der Tasche. Zentraler Gedanke ist, dass in kleinem Kreis entschieden wird, dass man nicht diese lästigen demokratischen Umwege machen muss. Insofern ist Schröder ein genialer Vollender der deutschen Einheit: die Regierungsform der Bundesrepublik ähnelt immer mehr jener der alten DDR. Wir lassen wählen: bitte 90 Prozent der Stimmen für CDU/SPD! Das ist die Vorgabe.

Symptomatischerweise überschneiden sich diese Entwicklungen mit dem Spektakel der europäischen Zwangsvereinigung, bei dem die als reine Absegnungs-Veranstaltungen gedachten Volksabstimmungen unerwünschte Ergebnisse brachten. Das Votum scheint im Paralleluniversum der Regierenden allerdings nicht angekommen zu sein: jar nit drum kümmere, sagte schon Konrad Adenauer, und so ähnlich lauten die Kommentare aus den Schaltzentralen in Berlin und Brüssel. Man wolle den Ratifizierungs-Prozess der europäischen Verfassung fortsetzen, sagt man bockig; auch der Konsens-Theologe Jürgen Habermas rät eindringlich dazu, den "europäischen Gedanken" nicht aufzugeben. Dass es in Brüssel lediglich um die Arrondierung von Märkten geht, nicht um kulturelle Vielfalt, Toleranz und Selbstbestimmung, will ihm nicht in den Kopf. In einem verdienstvollen Blatt wie der Süddeutschen Zeitung werden Europa-Skeptiker (von dem Schriftsteller Jean Rouaud) als Melange aus Reaktionären und Antisemiten gebrandmarkt, seitenlange Erörterungen über den angeblich nur innenpolitischen Charakter der französischen Volksabstimmung gedruckt und die ablehnende Haltung der Franzosen zu Europa wird allen Ernstes einem "Zuviel" an Demokratie zugeschrieben.

Man möchte die kruden Tatsachen nicht zur Kenntnis nehmen: dass eine europäische Verfassung zur Abstimmung stand und diese abgelehnt wurde. Dass die Bevölkerung zweier der wichtigsten Industrienationen Mitteleuropas ihre Interessen lieber in den etwas überschaubareren Nationalparlamenten vertreten sehen will als im Brüsseler Ministerrat, der keinerlei gesamteuropäische Legitimation hat. Gerhard Schröder ist für die bundesrepublikanische Gesellschaft gewählt, nicht für Europa. Sollte er die BRD auflösen wollen, so wäre es sinnvoll, vorher beim Wähler mal nach zu fragen. Tatsache ist leider, dass immer mehr Projekte, die man in den nationalen Parlamenten nicht durchsetzen kann, nach Brüssel verlagert werden, von wo man sie dann als Beschluss der Regierungs-Chefs reimportiert. Mit Demokratie hat das alles nichts zu tun - und es möchte sein, dass die Holländer und Franzosen das bemerkt haben. By the way: wie eine deutsche Volksabstimmung zu Europa ausgehen würde, ist höchst ungewiss; deshalb wird sie sorgsam umschifft. Und das hat Tradition; auch über die Wiedervereinigung durfte nicht abgestimmt werden, und eine Verfassungsdebatte wurde nach 1990 im Keim erstickt.

Das bundesdeutsche Personal, das Politik nur noch als Mauschelei versteht, als obrigkeitsstaatliches Durchsetzen oder als verwaltungstechnisches Ringen um Eigenheimzulage und Pendlerpauschale, ist charakteristischerweise in den Jahren nach 1968 sozialisiert worden. Es gab sie eben schon immer, im Studentenparlament, im AStA, bei den Jugendverbänden der Parteien, diese Typen, die an den Stäben zum Bundeskanzleramt rüttelten, aber nicht wussten, was sie da drinnen eigentlich wollten. Man hätte ihnen rechtzeitig in die Augen sehen sollen. Es sind Psychostrukturen, die sich heute ansonsten in den Manager-Etagen herumtreiben, Halbstarke wie Friedrich Merz, inhaltslose Karrieristen wie Guido Westerwelle, kadergeschulte Führernaturen wie Joseph Joschka Fischer. Letzterer hat mit Franz-Josef Strauß unendlich viel mehr gemein als mit Theodor W. Adorno, als dessen Schüler er sich unverschämter Weise ausgibt. Einzig Angela Merkel, das brave Mädle aus dem Osten, wirkt in diesen Kreisen wie eine Amateurschauspielerin - sie wird sich bald akklimatisieren. Und sich jene Haltung aneignen, mit der man das Medientheater einigermaßen übersteht: die staatstragende Coolness Schröderscher Prägung.

Der Aufsteiger mit seinen Requisiten, mit Maßanzug und Zigarre, repräsentiert allerdings auch jenen inneren Widerspruch, an dem die SPD seit 40 Jahren leidet und an dem sie nun zerbrechen wird: Man kann nicht gleichzeitig Arbeitnehmerinteressen vertreten und Arbeitgeberpolitik machen. Man kann nicht im Wahlkampf die heilige Johanna der Schlachthöfe geben und dann als Pierpont Mauler auf der Regierungsbank Platz nehmen. Die Sozialsysteme reformieren? Schon, schon. Die Frage ist nur, wie man die Kosten verteilt. Gerhard Schröder, der, wenn er überhaupt etwas liest, wahrscheinlich eher bei Luhmann als bei Habermas seine Zuflucht sucht, begreift sich selbst als Systemregulator. Der geht mit dem Anti-Viren-Programm über die Festplatte, die Schicksale von Individuen sind ihm egal.

Nun wird ihn selber jenes Schicksal ereilen, das er uns gern als Rührstück verkaufen möchte, das aber nur als Frühverrentung einer überschätzten Managernatur begriffen werden kann. Es hat keine Größe. Es steht für die Verkommenheit einer politischen Klasse, die im Kreis läuft, wie der Hamster im Rad, die bei der Industrie um Arbeitsplätze winselt, die den Primat der Politik über die Ökonomie gar nicht mehr zurückgewinnen will. Bei Shakespeare stirbt am Ende der König, und der neue steht schon bereit. In den traurigen Gefilden deutscher Politik stirbt das, was einmal eine Volkspartei sein wollte, und auf der linken Seite formiert sich das alte Neue, mit Gysi und Lafontaine. Nicht Fisch, nicht Fleisch hieß eines der besten Stücke von Franz Xaver Kroetz. Heute klingt es, als sei es der passende Titel für einen Nachruf auf die SPD.


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