Der große Manipulator

Wer spielt mit wem Joachim Meyerhoff zeigt den Hamlet als wahnwitzigen Theatermenschen - und Jan Bosse inszeniert in Zürich Zuschauer, Statisten und andere Geister bei staatszeremoniellen Tätigkeiten

Die große Schiffbau-Halle in Zürich hat schon einige Theater-Schlachten erlebt: Marthalers Hotel Angst etwa, das war die lieblichere, sängerische Kampfes-Variante, da wurde die Schweiz auf zart-fiese Weise angemeiert vom damals neuen Intendanten höchstselbst; oder Castorfs Berlin Alexanderplatz, die Brutalversion, als die über hundert Meter lange Halle Schauplatz einer sportiven, sexuellen Balgerei war, auch damals über vier Stunden lang und bis zur Erschöpfung; oder auch die staubfrei gediegene, die Schaufenster-Version, als Matthias Hartmann in seiner Einstands-Inszenierung Botho Strauß´ Tiefsinnsmunkelei Nach der Liebe beginnt ihre Geschichte als Hochglanz-Posse für die besseren Kreise anrichtete - ein langes Martyrium für jeden denkenden Zuschauer.

Die Halle selber, in der früher Kähne für den Zürisee zusammenmontiert wurden, ist durch ihre pure Größe für jeden Regisseur ein Problem: diese Fläche müssen die Schauspieler erst mal erobern, soll die Inszenierung nicht verschluckt werden vom übermächtigen Raum. Jan Bosse und sein Bühnenbildner Stéphane Laimé haben das weite Geviert nun zu einem Ort für Staatsbankette umgebaut, ein Thron- und Krönungssaal, ein Ersatzparlament, an dessen modrigen Wänden stockwerkhohe matte Spiegel hängen. Das Publikum sitzt an weiß gedeckten Tischen hinter zinnenen Tellerlein und Becherlein, im Zeremonienzimmer der Macht, wo gerade der alte König durch einen neuen ersetzt worden ist, der einfacherweise - das Private ist politisch - die Königin gleich mit übernahm.

Schon qua Präsenz sind wir Komplizen, und viele der Zuschauer lassen sich dann sogar zu Trinksprüchen und Treueschwüren animieren. Der überdimensionierte Raum ist allerdings auch das größte Problem dieser Inszenierung, die so ganz nebenbei doch mit sehr feinen, intimen Gefühlen hantieren müsste: mit der Trauer um den ermordeten Vater, mit der Erotik der treulosen Mutter, mit der Gewissenlosigkeit des Emporkömmlings Claudius, der einen angeblich aufgeklärteren Regierungsstil einführen will.

Das geht am Anfang gar nicht gut, es ist ein merkwürdiges Gestakse und offiziöses Getue, das im pompösen Raum völlig absackt. Auch bei Parteitagen oder kirchlichen Ereignissen ist man ja immer erstaunt, wie banal das alles live ist, wenn es nicht von einer Kamera aufgeblasen wird. Hier, im Schiffbau, soll aber nicht nur eine politische These verhandelt werden (nämlich, dass das Hinwegfegen eines Mächtigen immer ein Mord ist, egal, ob realiter oder symbolisch); hier sollen auch Figuren kenntlich werden. Das gelingt nicht; es gibt nur den wächsernen Claudius des Edgar Selge, ein nüchterner Geschäftsmann der Macht (Selge spielt später allerdings auch des alten Hamlets Geist, als Halbnackter mit einer wirklich grauenvollen Stoik); es gibt die eher zurückhaltende Franziska Walser als frischvermählte Witwe - und ein paar Höflinge. Das ist nicht viel im großen Weltenraum des Schiffbau.

In diese Lücke springt Hamlet, der große Wütende, Trauernde, Selbstsüchtige, der große Manipulator - seiner selbst und der anderen. Hamlet, der Spieler. Joachim Meyerhoff gibt ihn zunächst als blassen Stubenhocker mit zwischenzeitlichen Wutanfällen, ein Musterschüler, eine früh gealterte graue Maus, die sich an der Unmoral der Welt zu ungeahnten Widerstands-Intensitäten auflädt. Das Kuriose ist nun, dass der Regisseur Jan Bosse die "Mausefalle", den Auftritt der Theatertruppe, die das mörderische Treiben des neuen Königspaars entlarven wird, nicht etwa Profi-Schauspielern zumutet, sondern partout dem Publikum übertragen will.

Bosse hat sich ja kürzlich in einem Spiegel-Interview als "Abonnenten-Sohn" geoutet und das offenbar ganz unironisch gemeint: seine Eltern seien in Stuttgart begeisterte Theatergänger schon unter Peymann gewesen, dieser Virus habe auch ihn infiziert. So frisch und unbekümmert, wie Bosse an Stücke herangeht (nicht unbedingt immer zu deren Besten), so will er nun dem Abonnenten, dem Zuschauer zu seinem Recht verhelfen und ihn in Hamlets löbliches Aufklärungswerk einbinden.

Um ehrlich zu sein: das macht einem schon ein mulmiges Gefühl - wird man nicht gleich selbst auf die Bühne genötigt werden, um pantomimisch den sterbenden König zu geben? Sind wir im Mitspieltheater der siebziger Jahre gelandet? Nein, sind wir nicht. Spätestens beim Schlussapplaus wird sich herausstellen, dass die auf die Bühne gezerrten Zuschauer brave Züricher Statisten sind - und dass Bosse also das "Spiel im Spiel" noch eine Umdrehung weiterspinnt.

Der Regisseur hat das Stück also aufgerissen und mit allerlei Textfragmenten angereichert - aber letztlich hat er es dem phänomenalen Hauptdarsteller Joachim Meyerhoff als Spielleiter übergeben. Meyerhoff ist ein grandioser, großgewachsener, leptosomer Hamlet, früh schütter geworden, aber mit einem enormen - auch körperlichen - Drang zum politischen Widerstand und zum parodistischen Spiel mit der und gegen die Macht. Die Regisseurs-Karikatur, die er nebenbei auf einer Theaterprobe abliefert, ist zwar ein wenig billig und marktschreierisch, aber - leider, leider - in ihrer egomanen Besessenheit durchaus realitätstüchtig. Eine Studie in fortschreitender Enthemmung - nur der Alkohol aus der Kantine fehlt. Der große Edgar Selge, der in seiner Doppelrolle den Mörder Claudius als aasige Polit-Charge und den Geist von Hamlets Vater als starre, gruftige Projektion anlegt, kommt da etwas ins Hintertreffen. Phänomenal dagegen die Ophelia der Cathérine Seifert, die die wahnhafte Verzweiflung der Figur ganz fordernd und aggressiv nach außen spielt.

Bosse hat offenbar kein Problem mit solch intellektuellen, reflektierenden Schauspielern, die ihm, wie Meyerhoff, zum Teil die Regie selber abnehmen. Was dagegen auf der Strecke bleibt, ist der feine psychologische Firnis des Stücks: Alles geht nur von einer Person aus, und alles geht wüst nach außen los. Während das bei Hamlets Drangsalierung der Ophelia ("Geh ins Kloster, Nutte") noch angehen mag, ist seine Trauer um den toten Vater von Wutgebell übertüncht - da fehlt einfach die Hälfte der Figur. Ihre Pein, ihr Leiden bleibt unterbelichtet.

Andererseits steigert sich Meyerhoff mit seiner Lust am Agieren besonders im zweiten Teil in solche Gefühls-Intensitäten, dass er - als Einzelner - diesen großen Raum, die Halle, die Arena (und damit das Publikum) zunehmend erobert und beherrscht und manipuliert, nicht immer zur Erbauung der Betroffenen. Meyerhoff wütet als Totengräber seiner selbst, er schmeißt Holzbohlen und Dreck aus dem Grab und nebenbei Yoricks Schädel; am Ende krönt er sich selbst ein bisschen zum König und sagt den zukünftigen Sieger Fortinbras nur an. Der Fechtkampf mit Laertes ist eher ein Witz - überhaupt werden die Einzel-Episoden (hier Mutter Gertrud mit dem Giftbecher, dort der krege Polonius des Jean-Pierre Cornu, da die tumben Geheimdienst-Kanaillen Rosenkranz und Güldenstern) relativ zeitsparend abgehandelt.

Die Inszenierung ist eine vier(!)stündige Anstrengung mit mancherlei Untiefen und Flachheiten; am Ende haben Meyerhoff, Selge und Bosse den elementaren, politischen Stiefvater-Sohn-Konflikt nicht wirklich durchgearbeitet, sondern eher durchgewalkt und durch ein Hamletsches Solo, ein Einzeldribbling in der zweiten Halbzeit eindrucksvoll entschieden. Und das Publikum bleibt erschöpft zurück.


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