"Spähtrupp im Niemandsland" heißt der titelgebende Aufsatz, und gemeint ist damit die künstlerische Avantgarde vor allem des 20. Jahrhunderts, die sich mit diesem aus dem Militärvokabular entlehnten Begriff selbst stilisierte - als Vorhut, die im grauen Nichts einer reaktionären Welt nach der Neuerung suchte. Propheten und Märtyrer waren sie alle, unverstanden vom Volk und verfolgt von der Obrigkeit.
Der Witz ist nun, dass Konrad Paul Liessmann, der Wiener Philosoph, diese gängige Selbsteinschätzung der Künstler radikal destruiert. Er zeichnet nach, dass viele dieser radikalmodernistischen Ideologien mit Demokratie gar nichts am Hut hatten, sondern dass sie selbst höchst anfällig waren für die Totalitarismen, von denen sie später dann verfolgt wurden. Der Futurismus mit seiner Vergottung der Technik hatte mehr als nur höfliche Sympathien für die Faschisten, der Expressionismus pflegte ein bisweilen seltsames Pathos (Der Sturm und Die Aktion hießen die expressionistischen Zentralorgane), und Suprematismus und Konstruktivismus waren Lenin und Stalin durchaus zur Hand, bevor die Herren der Sowjetunion dann den biederen sozialistischen Realismus installierten und die Ästhetik-Revolutionäre als bürgerliche Formalisten an den Pranger stellten.
Das sind keine angenehmen, aber notwendige Einsichten. Konrad Paul Liessmann, der sich selbst als philosophischen Späher in trüben gesellschaftlichen Hemisphären begreift, relativiert damit auch seine eigene Position. Nichts ist schon deshalb gut, nur weil es mit dem Gestus politischer Aufklärung oder ästhetischer Radikalität daherkommt. In einer mittlerweile fast nur noch über den Markt sich regulierenden Gesellschaft gibt sich ja oft gerade das als fortschrittlich aus, was nur modisch um Aufmerksamkeit buhlt und sich zu diesem Zweck "die Maske der Kultur" aufgesetzt hat. Liessmann aber geht es um die Kraft des Arguments, das sich an seinem jeweiligen Gegenstand erst bewähren muss.
Was ist Kultur? Bei Liessmann ist es das, was mit einer geistigen Anstrengung verbunden ist. Er wehrt sich gegen den inflationären Gebrauch des Kulturbegriffs und plädiert für dessen Verengung auf das Wesentliche: auf einen Raum, der sich dem Diktat des Ökonomischen eben nicht fügt und in dem mit ungewöhnlichen Fertigkeiten Bedeutungen gestiftet werden, die über die platte Abbildung und Routine hinausgehen. Die "Jugendkultur" ist per se nichts Kulturelles, sondern einfach eine gesellschaftliche Gruppenbildung mit speziellem Sozialverhalten. Die Wohnkultur umschreibt eher ein Arbeitsgebiet für Designer und vielleicht einen Raum, in dem man sich wohlfühlen möchte; aber ob jede unaufgeräumte Studentenbude kulturell wertvoll ist, darf bezweifelt werden. Sind die drei Tenöre Kultur? Ein Fußballspiel? Die Love Parade?
Wenn schlechthin alles Kultur ist, dann kann nur schwer argumentiert werden, warum das eine gefördert (und angeeignet) werden soll und das andere nicht: warum ist eine Beckett-Aufführung wichtiger als ein Video von MTV? Es ist nicht nur die ökonomische Nutzbarkeit, die beides unterscheidet; es ist auch ihr Reflexions-Niveau.
Das sind nun Beurteilungs-Kriterien, die der moderne Kritiker gern meidet - sie klingen so muffig. Liessmann hat keine Scheu vor solchen Wertungen, aber er bedient sich ihrer, indem er der Jugend-, Pop- und Sportkultur mit satirischer Lässigkeit ihre Relevanz bescheinigt, andererseits aber mit dem verstorbenen Hans Blumenberg argumentiert, dass Kultur schon in ihren Anfängen die Kompensationsleistung der Schwachen gewesen zu sein scheint, der Kranken und Gebrechlichen, die zu Krieg und Jagd nicht taugten.
So wandert Konrad Paul Liessmann ironisch durch die Themen des Zeitgeists, vom Jugendkult, an dem eine objektiv alte, oder sollte man sagen: senile Population mitteleuropäischer Rentenempfänger sich ästhetisch aufgeilt, über die Informations- beziehungsweise Desinformationsgesellschaft, die in einer Flut irrelevant gewordener Mitteilungen ertrinkt, bis zum seltsamen, Konjunktur feiernden Bedürfnis nach Ethiken aller Art, nach leicht verständlichen Handlungsanweisungen für komplizierte Sachverhalte.
Diesen Bereichs-Ethiken - Rechts-Ethik, Bio-Ethik, Medizin-Ethik, Medien-Ethik, politische Ethik - ist gemeinsam, dass sie oft völlig irrelevant sind, weil kaum jemand sich danach richtet. Die Vereinbarungen zur Sterbehilfe oder zu Experimenten mit menschlichen Embryonen werden sowieso ständig "neuen Erfordernissen angepasst", und letztlich gilt doch nur die resignative Einsicht von Günter Anders: was machbar ist, das wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch getan. Die Flut von "Ethiken" spiegelt nach Liessmann eher eine Entmoralisierung der Gesellschaft; rein ökonomisch bedingte Handlungen werden in pseudomoralischen Diskursen überhöht.
Zwei Essays sind herauszuheben, die Entwicklungen auch der Bundesrepublik provokant zuspitzen. Der eine behandelt das Verschwinden des Vaters beziehungsweise der Vater-Imago in den europäischen Gesellschaften; der andere nimmt die in der Politik noch immer gängige "Rhetorik des Allgemeinmenschlichen" freundlich auf die Schippe und versucht begriffsgeschichtlich zu klären, was Humanismus war und wieder sein könnte.
Unter Vater-"Imago" verstanden Freud und später C. G. Jung (die Geschichte ist kompliziert) die plastische "innere Vorstellung", eine Art Urbild, das in einer Gesellschaft vom Vater besteht. Der Konflikt zwischen (omnipotentem) Vater und revoltierenden Söhnen war ja von Freud zur Urszene von Kultur überhaupt stilisiert worden. Diese nun freilich nicht mehr mörderische, aber immer noch spannungsgeladene Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn findet in einer vaterlosen Gesellschaft nicht mehr statt - und damit begibt sich die nachwachsende Generation natürlich auch der Möglichkeit, in der Auseinandersetzung mit dem Älteren selbst Kontur (und eine Instanz wie das Gewissen!) zu gewinnen. Die ersatzweise gewählte Orientierung an Medien wie MTV und Viva, an Turnschuh-Marken, an Computerspielen oder den Sprachmarotten und Kleidermoden der Gleichaltrigen scheint jedenfalls nicht weit zu führen.
Liessmanns Diagnose ist vernichtend: Der Vater als Außeninstanz, als Repräsentant von Gott, Geld, Gesetz, von Arbeit, Religion, Recht und vielleicht auch Tradition existiert nicht mehr. Der bemühte progressive Vater, der sich von der Frau domestizieren lässt und als treusorgender Softie mütterliche Aufgaben übernimmt, genießt wenig Achtung bei den Kindern und verfehlt die Kompetenzen, die er als soziale Figur einst hatte. Er repräsentiert nicht mehr die Realität, die Außenwelt, die Sphäre, in der Geld verdient wird und andere, nicht ganz so freundliche Regeln gelten wie daheim bei Muttern. Stattdessen sehen wir beruflich stehen gebliebene Väter, die ihre Kinder nach dem Funktionieren des neuesten Computerprogramms fragen müssen.
Da sich gleichzeitig auch die Rolle der früher für Intimität und Nähe zuständigen, heute berufstätigen Mutter zunehmend verflüchtigt, bleibt ein großes Vakuum. Der Wunsch der Kinder nach einer starken Person äußert sich immer indirekt. Liessmann spürt ihn noch in Kafkas anklagendem Brief an den Vater auf, der verdeckt ja einen Wunsch nach Aufgehobensein ausspricht; und er entdeckt ihn in eher skurrilen Vater-Imagines wie den Herren Mao oder Ho Chi Minh, den Idolen der Studentenbewegung.
Das Zentrum von Liessmanns Essay-Sammlung bildet die relativ kurze Abhandlung über Humanismus. Während Politiker gern die "humanitäre Intervention" für notwendig halten, aber in den seltensten Fällen angeben können, was dabei dem Humanum dient, rekonstruiert Liessmann die Bedeutung des Begriffs. Ausgehend von Terenz und Cicero, der die sittliche Vervollkommnung des Menschen im Auge hatte, und der Wende der frühen Neuzeit, der Orientierung auf das Individuum statt auf den Gott der scholastischen Theologie, begreift Liessmann den Menschen als undefiniertes Projekt, als Schöpfer seiner selbst. Kronzeuge ist ihm der Renaissance-Philosoph Pico della Mirandola, der sich Gott als Künstler vorstellte und auch den Menschen als ein Wesen konzipiert, das sich selbst zu entwerfen habe. Diese tendenzielle Offenheit ist zunächst mit keinen bestimmten Werten verbunden.
Liessmann betrachtet dann freilich auch die antike Lehre von der "Selbstformung" des Renaissance-Humanismus, die Bildungs-Idee der Neuhumanisten Schiller, Goethe, Winckelmann, die den Menschen als Selbstzweck ansahen (eine Auffassung, die man mit den Lehren des Islam einmal in vergleichende Beziehung setzen sollte); Humboldts Konzeption des exemplarischen Lernens am Griechentum, an dem man am besten den Charakter des Menschlichen studieren könne. Er referiert Sloterdijks Kritik am Humanismus, der als politisches Programm versagt habe, wie eine Betrachtung der Nazizeit unschwer zeigen kann; er betrachtet Foucaults modischen Antihumanismus, der das souveräne, sich selbst entwerfende und geschichtlich verwirklichende Individuum des Marxismus und Existentialismus für tot erklärt und in Systeme und Strukturen auflöst, und der dann, in den letzten beiden Bänden der Geschichte der Sexualität, kurioserweise doch bei der antiken "Selbstsorge" landet, die er vorher so gar nicht im Blick hatte. Und Liessmann endet mit der pessimistischen Sicht des Günter Anders, der sich den Menschen als antiquierte Kategorie vorstellt, der immer mehr Kompetenzen an die Technik abgibt und auf seine Selbstabschaffung hinarbeitet.
So viele Widersprüche, aufgetürmt an einem einzigen Begriff. Das Schöne an diesen weit ausholenden Essays ist, dass sie Philosophie auf ein sehr praktisches Niveau übersetzen, in einer präzisen, klaren und gänzlich uneitlen Sprache. Und wenn auch die Bestimmung dessen, was als "human" zu gelten habe, viele Möglichkeiten offen lässt, so bezieht Liessmann am Ende seines Kultur-Aufsatzes doch eine deutliche Position: die europäische Kultur sei eine der Individuen. Die "Reethnisierung und Tribalisierung der Gesellschaft", die derzeit unter dem Namen Kulturpluralismus daherkomme, gefährde die politische und ästhetische Autonomie der Subjekte. Und womöglich, so Liessmanns höfliche Diagnose, spreche sie "die Sprache der Barbarei".
Konrad Paul Liessmann: Spähtrupp im Niemandsland. Kulturphilosophische Diagnosen. Zsolnay, Wien - München 2004, 255 S., 19,90 EUR
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