Karl-Markus Gauß ist ein famoser Literaturkritiker, der normalerweise zu Hause in Salzburg sitzt und Bücher rezensiert. Bisweilen aber will Gauß das Abgründige unserer Zivilisation ganz real auskundschaften, und dann macht er sich auf den Weg durch dieses seltsame Europa, das sich aus so vielen unterschiedlichen Sprachen, Landschaften, Traditionen und letztlich aus lauter Minderheiten zusammensetzt.
Was dann bei Gauß entsteht, ist kein Reisebericht, kein Essay mit Fußnoten, kein Recherche-Protokoll, keine gelehrte Abhandlung, sondern etwas Singuläres: da schreibt einer lakonisch auf, was er erlebt hat - und weil er an literarischen Formen geschult ist, weil er Miniaturen, Szenen, Porträts, Vignetten, erzählerische Linien bauen kann, erhält die so wahrgenommene Realität plötzlich eine Überzeugungskraft, die sonst nur von Literatur ausgeht.
Die Methode ist anfechtbar - denn manches, was Gauß uns mit viel Hintergrundwissen in seiner immer ein bisschen traurigen, poetisch-klaren Sprache schildert, kann man aus ethnologischer oder gar sozialpädagogischer Perspektive natürlich ganz anders sehen.
Diesmal fährt Gauß zu den Roma in die Slowakei, in ein Land also, das sich durch den EU-Beitritt enorm verändern wird und in dem die bei uns Zigeuner genannte Minderheit ein jämmerliches Dasein fristet. Die Annäherung ist verhalten: Leere Cafés, in denen man vor Langeweile fast stirbt, laute Hotels voller EU-Gewinnler und Geschäftemacher. In Kosice schließlich der erste aktivere Erkundungsgang durch die Roma-Siedlung Lunik IX, ein Terrain, das ein Einheimischer nie betreten würde. Das Schlimmste an den Slums, sagt Gauß, ist ihre Unsichtbarkeit: wir wissen, dass sie da sind, aber wir kümmern uns nicht darum, wir sehen weg. In der Siedlung fällt ihm die "nervöse Ereignislosigkeit" auf, der Schmutz, die Untätigkeit der posenhaft machistischen Männer, die fast alle weder lesen noch schreiben können und aus Angst um ihre patriarchale Stellung in der Sippe jede Bildungsanstrengung ihrer Nachkommen, jeden Schulbesuch zu unterbinden suchen. Nach längerer Anschauung und Recherche kommt Gauß auch langsam hinter das Kasten-System, das die Roma unter sich errichtet haben. Die Roma, die höchste Kaste, verkehren zwar noch mit den Ciganiks, die als Gauner gelten; beide Gruppen aber stigmatisieren die Degesi, die "Hundeesser". Deren Kinder müssen in anderem Dreck spielen als die der Roma. Wobei die Degesi natürlich keine Hunde essen, sondern nur im Ruf stehen, dieses zu tun.
Gauß beschreibt uns nun ein Ausbeutungs- und Klassensystem, das im Kleinen das reproduziert, was die europäische Gesellschaft im Großen vormacht: Es gibt in Lunik IX einige wenige Geldverleiher und Gurus, die andere, Dümmere, von sich abhängig machen und sie dann auf Bettelfahrten in die reichen westeuropäischen Länder schicken. Die Einnahmen müssen sie abgeben, aber sie bleiben auf immer unter Kuratel, weil sie ihre Schulden bei ihren Clan-Chefs, Bürgermeistern oder Erpressern nie werden bezahlen können.
Gauß entfaltet diese Widersprüche, ohne gleich zu urteilen. Er bietet auf diesen 110 Druckseiten eine große Stofffülle: Kurze historische Einschübe über die Herkunft der fahrenden Roma aus Rumänien findet man ebenso wie eine Zeichnung der ruthenischen Minderheit, die durch die europäische Einigung geteilt wird: ein Teil lebt in der Slowakei, ein Teil in der ausgeschlossenen Ukraine.
Das wird in minimalistischen Szenen und Porträts erzählt: Gauß schildert etwa "die Stille der Schweigenden" in einer griechisch-orthodoxen ruthenischen Kirche, den merkwürdigen Eros eines jungen Popen, die Begeisterung der slowakischen Jugend für Amerika und die Verteilung der Hilfsgelder nach einer Flutkatastrophe, als die obdachlos gewordenen Roma nur einen geringen Teil des Geldes erhielten und der Rest des Ortes sich dafür neue Fernseher und Rasenmäher kaufte.
Dies alles ist aber nur Vorspiel und Anlauf für die endgültige Höllenfahrt, für den Gang nach Svinia, eine Roma-Siedlung, die, von der Menschheit ausgegrenzt und vergessen, fünfzig Jahre in völliger Isolation verbrachte. Wäre es nicht zynisch, man müsste von einem Menschenexperiment sprechen: unter der Herrschaft des Realsozialismus überließ man manche der Roma-Gemeinden sich selbst, der formbarere Rest wurde auseinandergerissen und auf brachiale Weise eingegliedert, sprich: dem Produktionsprozess zugeführt. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft gingen vor allem die Roma-Gemeinden dann im Strudel der Kapitalisierung des Ostens unter.
In Svinia empfängt den Besucher ein Gestank aus Müll und Verwesung, der ihm den Atem verschlägt - und an den er sich doch nach einer Weile gewöhnt. "Lachende Menschen", die "achtlos im Dreck ausharren", recken dem Autor in freundlicher Begrüßungsgeste die Hände entgegen, Gezeichnete im Nebel der Geschichte - sie haben praktisch keine Schriftlichkeit, kein Zeitgefühl, kaum Gedächtnis. Auch in den Archiven findet sich nichts über die Geschichte von Svinia. Aber nirgends, sagt Gauß, sei es den Menschen wichtiger als hier, "kein Namenloser, sondern ein ganz Bestimmter" zu sein. Sie alle wollen kindlich mit ihrem Namen erkannt werden.
Man fragt sich natürlich, ob es gänzlich ohne Zutun der Roma zu dieser Situation gekommen ist und welche Art von Verweigerungshaltung die slowakischen Roma in ihre Isolation getrieben hat. Wie ist das motiviert? Immerhin sind auch die Roma ein Kollektiv - es muss also auch eine Kultur der Abgrenzung, des Sich-Ausschließens gegeben haben. Welche sozialen und psychischen Prozesse haben zu einer so radikalen, masochistischen Selbstverneinung geführt? Bei Gauß erfährt man darüber wenig, er meidet diese gefährliche Frage und beschränkt sich auf die Beschreibung. Zwar blitzt immer wieder die Ahnung auf, wie schwierig das Zusammenleben mit Verwahrlosten sein muss, die Einsicht, dass auch der Autor lieber seine Ruhe hätte als die ständige Belästigung durch kulturell anders gepolte Verhaltensweisen. Aber am Ende steht die zweifellos wahre Feststellung, dass die Roma von den Slowaken aktiv ausgegrenzt werden.
Drei Viertel der Bewohner von Svinia sind Jugendliche, einige der Roma-Kinder gehen in die Schule, freilich streng getrennt von den "Weißen", den Kindern des slowakischen Ortsteils. Auch das Mittagessen müssen sie in einem separaten Raum einnehmen, weil sie angeblich nicht mit Messer und Gabel hantieren können. Aber sie könnten es lernen. Die Sozialarbeiter der Siedlung, ein naiver Amerikaner, von einer Hilfsorganisation geschickt, und eine Pädagogin versuchen, diese "Unberührbaren" zur Aktivität zu animieren. Das Liefern von Hilfsgütern frei Haus, von Essen und Konsumartikeln ist verpönt; stattdessen will man die Bewohner an allen anfallenden Arbeiten beteiligen, am Häuserbau zum Beispiel.
Bilder von vernachlässigten, sich selbst vernachlässigenden Menschen in Regen und Schmutz, fröhlich-fatalistische Apathie, verwesende Tiere im Treppenhaus und gleich daneben die Privatgemächer der Roma, die wie ein kleines Heiligtum sorgfältig aufgeräumt sind: hier passt nichts zusammen. Keiner der in Svinia Wohnenden hat jemals Hunde gegessen - es ist ein Gerücht über die Vorfahren, das den heute Lebenden anhaftet und sie ausgrenzt. Die stoische Gleichgültigkeit der Roma gegen sich selbst, gegen die eigenen, großenteils nicht selbst herbeigeführten Lebensverhältnisse wird von Gauß am Ende konterkariert mit einer frühlingshaften Abschieds-Szene, die optimistisch kleine Anfänge von Arbeit beschwört: Menschen, die Figuren schnitzen, Hausdächer und Autos reparieren, Break-Dance üben, Musik machen und Stofftaschen nähen.
Beim Aufbruch im Hotel findet der Autor ein Geschenk in der Jackentasche, ein paar Gegenstände, die die Roma-Kinder ihm in die Kleider geschmuggelt haben, auf dass etwas von ihnen in die Welt hinausgelange und diese von ihnen erfahre. Und so schmuggeln auch wir diese konzis ausgearbeiteten, traurig-poetischen Tagebuchblätter des Karl-Markus Gauß nun in den Literaturbetrieb ein, als Nachrichten aus einer unbekannten Welt.
Karl-Markus Gauß: Die Hundeesser von Svinia. Zsolnay, Wien 2004,
14,90 EUR
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