Man möchte Zürich eine glückliche Stadt nennen: Die Zeit der Stürme ist vorbei, der böse Marthaler vertrieben, und es erscheint nun ein Prophet aus dem fernen Deutschland, der der Bankenmetropole den rechten Weg weist, zumindest im Unterhaltungssegment Theater.
Vor drei Jahren gab es in Zürich eine Art Kulturkampf - das Bildungsbürgertum (also die halbe Stadt) opponierte gegen Christoph Marthalers träges, immergleiches Dämmertheater und gegen seine Jungregisseure, die die ehrwürdige Pfauen-Bühne mit Techno-Musik beschallten und auch sonst keine wiedererkennbaren Klassiker inszenieren wollten. Zudem waren die Finanzen zerrüttet; Zopf- und Bartträger Marthaler, der sich zu Beginn der Intendanz gern einsam und mit Plastiktüte, wie ein Obdachloser halt, ablichten ließ, gab den Seinen ein Manna, das er gar nicht im Etat hatte. Das mag man nicht in Zürich. Man liebt hier Theatermenschen, die smart auftreten, gut rasiert sind und in feinem Zwirn stecken. Ihnen gewährt man auch gern etwas Rabatt.
Matthias Hartmann heißt der Glückliche, der nun Frieden und Eintracht bringt, der die Reichen vom Züriberg wieder mit dem Theater versöhnt und gleichzeitig das progressive Jungvolk nebst Schickeria bei der Stange hält. Die Eröffnungs-Inszenierungen seiner Intendanz zeigen programmatisch, wo es nun langgeht: für jeden etwas - hier, im Schauspielhaus am Pfauen, der gepflegte, aber leider ziemlich öde Klassiker; dort, in der riesigen Schiffbau-Halle, die ungeheuer wichtige Gegenwarts-Dramatik, angerichtet wie in einer Edel-Boutique.
Das Bühnenbild von Bettina Meyer winkt uns schon von weitem zu: Die Zeit von Marthalers muffigen Wartehallen ist vorbei! Die ganze Pfauen-Bühne hat sie mit edlem Sofa-Leder austapeziert, bis hoch in den Schnürboden. Will sagen: wir sind hier unter uns, auf der gemütlichen Couch. In der luxuriösen Stadttheater-Gruft. Kein falsches Tönchen dringt in diesen schallgedämmten Raum. Hier mag man sitzen, raunen, staunen. Die Regisseurin Barbara Frey hat das Amt der Zeremonienmeisterin übernommen: Sie inszeniert Ibsens John Gabriel Borkmann zu Tode, sie balsamiert das Stück derart ein, dass die alte Leiche niemandem mehr Schmerz bereitet.
Es ist schon klar, warum Matthias Hartmann mit diesem Spätwerk Ibsens seine Züricher Intendanz eröffnet: der Bankier, oha, John Gabriel Borkmann hat Gelder veruntreut und sich schlimm verspekuliert, völliger Geschäfts-Crash, Gefängnis, nach der Entlassung selbstgewählte, rechthaberische Einsamkeit. Das in Zürich - o Gott, wie mutig! Außerdem hatte er früher, um des geschäftlichen Aufstiegs willen, seine Jugendliebe sitzen lassen und deren spröde Zwillingsschwester geheiratet. Obwohl hier gleich mehrere Lebenstragödien zu besichtigen sind, ein Spiel von Verrat und vielen enttäuschten Hoffnungen, geht es in Zürich äußerst gemessen zu, fast kirchlich-steif, mit weiten Abständen: Oben tigert der eigentlich ob seines Berserkertums verschrieene Thomas Thieme als Borkmann brav im Zimmer hin und her, unten zanken salbungsvoll die Frauen. Oben schindet sich Thieme mit Fleiß über die Zeit, in den besten Momenten wildgrubert er ein bisschen; unten zelebrieren die beiden Schwestern ein Hochamt der falschen Bedeutsamkeit. Barbara Nüsse spielt Borkmanns Gattin übertrieben signalhaft als enttäuschte, hinterfotzige alte Hexe, kein Blau-, sondern ein Graustrumpf in giftgrüner Strickjacke, die dem Rest der Menschheit jede erotische Anwandlung missgönnt. Nüsse barmt und stichelt und höhnt und ringt die Hände - die alten banalen Klischees aus dem Rezeptkasten des Stadttheaters. Jutta Lampe ist die von Borkmann verlassene Ella Rentheim: Ich bin müde und krank, erzählt die uns ausdauernd, aber immer noch unheimlich sexy. Und in jeder Szene ist Frau Lampe umweht vom Weihrauchduft des ehemaligen Schaubühnen-Stars. Die beiden Schwestern konkurrieren um die Mutterrolle bei Borkmanns Sohn - der ist freilich so klug, mit einer jungen Frau auf Reisen zu gehen und sich dem besitzergreifenden Gezeter zu entziehen.
Ein einziger wahrer Moment ereignet sich in der Aufführung: der Boden des ersten Stocks mit dem selbstgerechten Borkmann walzt wie eine ungeheure Stahlpresse herunter aufs Erdgeschoss, wo die Ehefrau dann nur noch gebückt den Schritten des Gatten nachlauscht. Aber das Grauen, das in diesem Stück steckt, wird abendfüllend weginszeniert. Selbst Borkmanns Tod in der Kälte ist eine vornehme Stilübung: leise rieselt der Schnee in die Lichtgasse - sieht immer schön aus, besonders im Sommer.
Im Schneetreiben beginnt auch das Stück von Botho Strauß: ein älter gewordenes Paar sitzt vor einer Fensterfront und schaut in die weißen Flocken. Minutiös beschreibt der Autor jede noch so affektierte Handbewegung, und der Regisseur lässt die Regieanweisungen einlesen. Es wird aber bald klar, dass Matthias Hartmanns Inszenierung sich für die Beziehungen zwischen Männern und Frauen kaum interessiert. Nach der Liebe beginnt ihre Geschichte? Keineswegs. Hartmann hat Strauß´ Märchenspiel für die Upper Class so eingerichtet, wie man es von einem gehobenen Dienstleister erwarten kann: unglaublich schick, unglaublich belanglos. Das Räderwerk der Technik hat in seinem Theater schon lange das Kommando übernommen, und mit Schweizer Verlässlichkeit schnurrt nun ein Zirkusfeuerwerk keimfreier Effekte ab: Riesige Glasscheiben gleiten einen von Karl-Ernst Herrmann entworfenen überdimensionierten Laufsteg entlang, aufklappbare Zelte fallen aus der Decke, geheimnisvolle Fließbänder fahren, wie in Zaha Hadids Leipziger BMW-Gebäude, durchs Büro, sie transportieren ganze Rumpelkammern von Requisiten und lassen sie wieder in den Orkus fallen, Himmelsleitern führen (als sehr platte Metaphern) in die Höhen sexuellen Vergnügens.
Mit den Glasscheiben kann man die Vergeblichkeits-Übungen der Liebe natürlich schön spielen, man kann die Gesichter dort zu einem verzerrten Francis-Bacon-Flunsch plattdrücken oder mit Fingerfarben die Umrisse der Geliebten nachzeichnen. In den Zelten des Lasters lauern brutale Glatzköpfe, und die von oben einschwebende, reagenzglas-artige Goethesche Hexenküche bringt im Chemikalien-Dampf eine runderneuerte, verführerische Homuncula hervor. Aber das alles ist arrangiert, nicht inszeniert, auch wenn es bisweilen Witz entfaltet wie das zu einem "In-Flagranti-Denkmal" hingegossene juvenile Paar. Allerdings: dass hier zwei Menschen, die etwas gespreizt Astel und Kira heißen, die Liebe abhanden gekommen ist und dass die Zuneigung nun künstlich wiederhergestellt werden soll, beim bio-gläubigen Botho Strauß durch "Erotonenbeschuss", gerät ziemlich in den Hintergrund.
Astel und Kira entwerfen (und verkaufen) als Architekten "gated communities", abgekapselte Idealstädte für die Reichen. Schon diese Berufswahl sollte misstrauisch machen - in Unternehmerkreisen sind Gefühlsdramen Shakespearescher Dimension (darauf zielt Strauß) eher selten, und man möchte die beiden trüben Luxusgeschöpfe eigentlich lieber sich selbst überlassen. Regisseur Hartmann tut das auch: Er verwandelt die Entfremdung des Paares konsequent in Hochglanz-Theater, wobei Corinna Kirchhoff als Kira vor allem in den Eifersuchts-Szenen primadonnenhaft outriert und diese Seltsamkeiten für Schauspielerei hält. Robert Hunger-Bühler, der als verführbarer Gatte durch die Szene schlurft, verweigert sich wieder einmal jeder Regie, aber das zeugt hier von einem gewissen Selbsterhaltungstrieb. Drumherum hübsch kabarettelnde Ruhrpott-Xanthippen und fläzende Boutiquen-Mädchen, Lederjacken-Söhne und eine leicht faschistoid aus grauer Menschenmasse selektierte Schöne namens Undula, die in jeder Szene das Kleidchen wechselt - und von dem Hausmädchen Celia (bei Kathrin Pfammater eine Mischung aus Puck und Kellnerin) auf den Hausherrn Astel angesetzt wird.
Für das Paar, den "Vierfüßler", hat Botho Strauß also eine Art Erziehungsroman zurechtgebastelt: durch allerlei Prüfungen zurück ins Ehe-Nest. Das mag, mit wachsendem Lebensalter, seine Berechtigung haben. Jedoch: der Altmeister aus der Uckermark wandelt wieder einmal auf der Grenze des Sagbaren (also zum Kitsch) und hantiert priesterlich mit den letzten Beziehungs-Dingen - das Ergebnis ist Pseudo-Tiefsinn für die besseren Kreise. Matthias Hartmann, everybody´s darling, ist für das Stück der adäquate Regisseur: ein Flaneur auf dem Boulevard der theatralen Möglichkeiten, in jedem Schaufenster eine Delikatesse.
Zürich bekommt also genau das Theater, das es bestellt hat; etwas hämischer müsste man sagen: das es verdient. Hartmanns Recycling alter Schaubühnen-Stars verspricht zumindest Publikums-Erfolg. Auch im Feuilleton hat der Intendant seine Verbündeten: sowohl der sterbensfade Ibsen-Abend als auch die todschicke Botho-Strauß-Etüde entlockten dem Kritiker der FAZ spitze Entzückensschreie, und man geht nicht fehl in der Annahme, dass hier eine neue Liebe entsteht, die Entente Zürich-Frankfurt. Das ist die neue schwarz-gelbe Mitte, die zwar bei der Bundestagswahl keine Mehrheit bekam, mit ein paar SPD-Einsprengseln aber auch im Kulturbetrieb hoffähig ist.
Oder doch nicht? Möglicherweise lässt sich auch in Zürich mit pur reaktionärem Theater auf Dauer kein Programm machen. Vielleicht muss auch Matthias Hartmann sich noch mal neu sortieren. Man soll die Hoffnung nicht aufgeben.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.