Gegenklang

Retro Wassily Kandinskys Abstraktionen in der Tübinger Kunsthalle

Als Kandinsky 1911 zum ersten Mal ein Stück von Arnold Schönberg hörte, war er völlig frappiert: Was er, der Maler, im Bild versuchte, das konnte er auch bei dem Komponisten wahrnehmen: dissonante Farbklänge und Linienführungen, die nichts mehr abbildeten, sondern ihre Sinnstruktur nur innerhalb des Kunstwerks selbst entfalteten. Der Schritt zur abstrakten, und das heißt präziser: zur ungegenständlichen Malerei ist Kandinskys ureigenstes revolutionäres Verdienst.

Die Tübinger Ausstellung setzt bereits mit dieser Phase ein. Kandinskys Anfänge, seine Herkunft aus der russischen Volkskunst und Ikonenmalerei hat man vor fünf Jahren hier gezeigt, und der von Kandinsky mitbegründete »Blaue Reiter«, der expressionistische, eruptive Aufbruch in die klassische Moderne, war in Tübingen gerade erst zu sehen. Kunsthallenleiter Götz Adriani knüpft da an: Er hat aus dem zur Zeit (wegen Renovierung) geschlossenen Pariser Centre Pompidou die Hauptwerke Kandinskys und viele Zeichnungen bekommen, an denen man demonstrieren kann, daß auch die Abstrakten von der frühen Spontan-Skizze erst über Umwege zum ausgeführten Großformat kommen.

An Kandinsky lassen sich 50 Jahre europäische Geschichte verfolgen. Und es ist erstaunlich, wie dieser Moskowiter, der eigentlich Jurist war, sich zwischen den Staaten und den Stilen immer fortentwickelt hat. Ein bißchen Jugendstil, dann um 1910 in München das Eintauchen in die Leuchtkraft der Farben und Gebärden - zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin Gabriele Münter, die auf diesem malerischen Terrain ihr Leben lang verbleiben sollte. Für Kandinsky aber war dieser Gestus nicht genug - für ihn fliegt nicht nur die soziale Ordnung, sondern ein ganzes Weltbild auseinander. Man mag in der ungegenständlichen Malerei, an der zeitgleich auch Mondrian oder, ganz anders, Malewitsch arbeiteten, eine Reaktion auf Einsteins Relativitätstheorie oder ein Vorausahnen des alles umstülpenden Ersten Weltkriegs sehen. Für Kandinsky selber war es ein Erkundungsgang in sein Innenleben.

Man mag in diese Bilder deshalb viel hineinprojizieren, man kann Augen, Tatzen, Instrumente, Bäume, Sonnen, Gitter, Quadrate, Schnäbel, Zirkel, Stäbe, Pfeile finden - die Frage ist nur, ob das weiterhilft. Man neigt dazu, abstrakte Zeichen oder menschenähnliche Formen zu sehen, wabernde Teilchen oder konstruktivistische Geometrien. Kandinsky sagt dazu nur: Dieses Rot ist wie der Stoß einer Trompete. Also: Es ist ein Gefühl. Ein hingetupftes, gedämpftes Blau oder ein grellböses Gelb. Daß man Innenleben darstellen kann wie in einem Aquarium, daß sich die Einzelteile dieser Bilder der genauen Bestimmung entziehen und einfach nur einen Farbklang schildern, eine Befindlichkeit, einen Zusammenprall von Formen - das kann man in dieser Ausstellung lernen. Manche Bilder aus der Münchner Zeit erwecken den Eindruck, der Maler habe die Bilder dann farblich aufgeblasen. Danach, als Kandinsky in den zwanziger Jahren am Bauhaus lehrte, gibt es eine große Klarheit und Entschiedenheit der Formen, abstrakte Bilder auch dies, aber eben wie am Reißbrett entworfen.

Die Malerei von Kandinsky ist trotz großer Beliebtheit vielen bis heute ein Mysterium geblieben. Dieser Maler, der 1914 als unerwünschter Ausländer aus Deutschland abgeschoben wurde, arbeitete in der Sowjetunion zunächst ganz gutwillig an einer neuen Kulturpolitik mit und ging erst wieder nach Deutschland zurück, als das Leninsche Parteilichkeitsdogma ihn als dekadenten Bourgeois erscheinen ließ.

Am Bauhaus entwirft er dann eine neue Formensprache und eine Farblehre, er findet heraus, daß das seltsam Schwebende abstrakter Bilder sich am besten verwirklichen läßt, wenn man den Schwerpunkt des Bildes nach oben verlegt. Als die Nazis vor der Tür stehen, malt er ein Werk mit dem Titel »Entwicklung in Braun« und verabschiedet sich nach Paris, wo er trotz der faschistischen Bedrohung ein seltsam gelassenes Spätwerk fabriziert.

Während Picasso und Kollegen trotz aller gesplitterten Gitarren immer der Figuration, dem Bezug zu einer äußeren Wirklichkeit treu blieben, war das für Kandinsky Schnee von gestern. Manchmal ist er etwas dekorativ. Aber seine Bilder sind Zusammenklänge verschiedener Sinneswahrnehmungen, Fühlen, Tasten, Schmecken, Hören, Sehen - und schon die Titel wie »An eine Stimme«, »Gegenklänge«, »Improvisation«, »Leichtes« oder »Bunter Mitklang« deuten seine Musikalität an. Und es gibt auch bei Kandinsky die wilde konstruktivistische Entschiedenheit, gegen das Betuliche in der Kunst, gegen die Seichtheit, auf die ihn manche Postkartenmacher heute verkleinern wollen. »Auf Weiß, II« (1923): Zacken, Blitze und Pfeile. Ein Bild wie ein Fanal.

Wassily Kandinsky, Die Welt klingt. Hauptwerke aus dem Centre Georges Pompidou. Kunsthalle Tübingen, bis 27. Juni. Katalog 39,- DM

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