Wahrscheinlich ist Michael Lentz - neben Rainald Goetz - der radikalste deutsche Gegenwartsautor. Der verzweifelte Mut oder auch die wütende Verzweiflung, aus denen heraus Lentz´ Prosastücke geschrieben sind, signalisieren von Anfang an: eine lauwarme Kunstübung ist nicht zu erwarten. Hier geht es wirklich um was - um den Versuch, noch einmal eine schummrige, ausufernde, mäandernde "Liebeserklärung" zu machen, die in Wahrheit eine zum Roman geweitete Selbsterforschung ist, eine gnadenlos intime, ironische, böse, bettelnde, desillusionierte, auf den Punkt geschriebene Reflexion über die Möglichkeit dauerhafter Zuneigung in diesen Zeiten. Oder es geht um den Tod der Mutter, das Muttersterben - und um das, was es in dem zurückbleibenden Sohn auslöst. Mit diesem Text gewann Michael Lentz vor sechs Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis, und seitdem ist er vom Geheimtipp und Bürgerschreck zu einem wichtigen Autor avanciert. Der mittlerweile 43-Jährige unterrichtet jetzt sogar als Professor am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig und ist dortselbst Präsident der Freien Akademie der Künste.
Wenn man diesen spillerigen, hochgewachsenen, kahlgeschorenen Typen in Lederjacke und Cowboystiefeln in irgendeinem Foyer herumstehen sieht, dann hat er allerdings so gar nichts Präsidiales an sich. Der Mann macht Literatur, die in ihrem Ursprung aus der Subkultur kommt und sich dann an der Universität aufgeladen hat, mit Germanistik und Philosophie. 1.240 Seiten hat Michael Lentz über Lautpoesie nach 1945 geschrieben, ein Monstrum von Doktorarbeit; und im Grunde ist Michael Lentz auch weniger Prosaist als vielmehr Laut-Poet, Turbo-Sprachkünstler, Vortragsvirtuose, CD- und Hörspielmacher. Hier hat einer seinen persönlichen akustischen Wahnsinn zum Beruf gemacht: Lentz ist, wie Artmann oder Jandl, besessen von den expressiven, artikulatorischen Möglichkeiten der Sprache, von ihrer Musikalität, von ihrer nur scheinbaren Sinnhaftigkeit und ihrem schlummernden immanenten Nonsense.
Deshalb ist Lentz auch bekennender Theaterhasser. Es ist sehr lustig, das Interview nachzulesen, das die Frankfurter Intendantin Elisabeth Schweeger mit Lentz im Vorfeld der Gotthelm-Inszenierung geführt hat - und dann, mit Mühe, zu einem halbwegs versöhnlichen Ende bringt. Da gibt der Autor Lentz ohne die üblichen Höflichkeitsverrenkungen seine Langeweile bekannt: sein immer neu auftauchendes Grauen, wenn so ein Schauspieler eine Bühne betritt und gleich einen Satz sagen wird und man weiß schon im voraus, wie das sein wird, der Schauspieler, der Satz, das Stück, der ganze Abend. Als Kritiker kann man diese Theaterphobie sehr gut nachvollziehen: Natürlich ist das bundesdeutsche Theater grauenvoll, der ständig wiederkehrende gespreizte Versuch, trotz mangelhafter Vorbildung sich mit Welterklärungen wichtig zu machen und dabei den eigenen Narzissmus abzumelken. Und natürlich liegt das auch an diesem altmodischen Medium Theater, das sich ständig überartikulieren und verkünsteln und aktualisieren und verrottete Texte als Modelle für heute ausgeben muss, obwohl sie vielleicht (das wäre ja schon genug) nur Modelle für damals waren. Nichts kann man in seiner Fremdheit belassen, alles muss inszenatorisch an die Brust gedrückt werden, und wenn das nicht hilft, kann man´s immer noch postmodern kleinhacken.
Lentz hegt also ein gründliches Misstrauen gegen die Bühne, und es ist rührend zu lesen, wie die Intendantin Schweeger im Brustton des erleuchteten Theater-Gutmenschen "Geschichten erzählen", "Haltungen formulieren" und "Fragen stellen" will und Lentz damit rein gar nichts anfangen kann. Aber immerhin drucken sie das Gespräch dann in ihrer Theaterzeitung ab, und immerhin hatte das Frankfurter Schauspiel Lentz schon vorher überredet, ein Stück zu schreiben; Lentz hat dreimal abgesagt und dann doch etwas fabriziert, und nun haben die Frankfurter den Salat. Denn natürlich ist das Stück eine Provokation, eine ernsthafte Idiotie, ein komischer Sprech-Anfall, eine Zumutung - allerdings eine der erfreulichsten dieser Spielzeit.
Das Kryptische des Titels löst sich bald auf: Gotthelm oder Mythos Claus handelt von acht Figuren, die alle Claus heißen. Der Autor schickt sie - in einer sorgfältig ausgeklügelten Versuchsanordnung - zum Frisör, er lässt sie in Illustrierten blättern und unter der Trockenhaube Rätsel lösen, und das Lösungswort heißt "Gott" - so weit ist es mit dem Allerhöchsten gekommen: degeneriert zu vier Buchstaben in einem Kreuzworträtsel. Eine lockere Verschränkung also von Tief- und Flachsinn, von Banalität und dem allgegenwärtigen dubiosen Bedürfnis nach ein wenig Metaphysik: Reden über Gott und die Welt. Roboter-Claus, An-und-Auszieh-Claus, Homunkulus-Claus, Atem-Claus, Räucherstäbchen-Claus: sie alle haben dann ein Erweckungs-Erlebnis unter einer stets umkämpften großen Königs-Trockenhaube, einer Art Zeit-Kapsel, dem "Gotthelm", aus dem sie mit eingesteiften Frisuren wieder auftauchen. Mit diesem Kopfputz werden sie angeblich unsterblich, und weil sie darüber nicht wirklich sprechen können, schwadronieren sie wortreich von ihren ganz persönlichen Gottes-Vorstellungen, Gottes-Theorien, Gottes-Beweisen - modernisierter Thomas von Aquin. Ist Gott ein Roboter? Eine Puppe? Ein Hund? Oder eine Wurst? Versteckt er sich in der Quantenmechanik? Gott, unsere Projektion! Kann man ja mal drüber reden. Jede Schauspielerin bekommt ihr Solo, die eine fährt ihren Computer-Gott an die Wand, die andere erleidet zwecks Erfahrung des Allerhöchsten einen hyperventilatorischen Erstickungsanfall.
Natürlich kann man das nicht inszenieren wie ein herkömmliches Handlungsstück, sondern nur als Installation, als Happening, als Performance - wie beim frühen Peter Handke, der ja noch - kunstvoll - das Publikum beschimpfte. Aber das muss man heute gar nicht mehr: die junge Regisseurin Christiane J. Schneider hat sich lustvoll eingelassen auf Michael Lentz´ kreiselnde, blitzschnell assoziierende Sprachspiele, auf seine persiflierende Aneignung der öffentlichen Rede, auf allerpersönlichste Bekenntnisse, politische Pseudo-Philosophie, Wissenschafts-Jargon und esoterische Selbstsuche. Die Inszenierung ist eine chaotische Podiumsdiskussion mit ausgesucht geschmacklos gekleideten Sprech-Harlekinen, Clownskünstlerinnen, die Text agieren, hauchen, flüstern, schreien, prusten, zucken, herausatmen, verkörperlichen. Der ständige Wechsel zwischen High and Low; die Austauschbarkeit der Figuren; das Sprachgewirr, das sich dann in bekenntnishafte Alleingänge auflöst: all das macht sich souverän lustig über die Rituale der Politik und auch des Theaters. Das Gewünschte fällt stante pede in Postpaketen vom Himmel; und nebenbei betreibt man die Gottsuche auch per brünstig stammelnder Lyrik mit rrrollendem R, als Collage verfremdeter Klassiker-Zitate: der weiße Leib als süßer Zeitvertreib im tiefen Errrdbeer(!)tal ... wir spielen wild ein schönes Spiel im Rauschen der Zugvogelschwingen ... undsofort, bis zum - ohohoh - orgasmusähnlichen Gestöhne: das muss Gott sein, den man da erfährt, wer sonst.
Natürlich kann man mit dieser Art von Aktionskunst nicht ein Repertoire, nicht eine ganze Spielzeit bestreiten. Andererseits: wie schön, dass da wieder jemand laut spricht! So ein kleines, bescheidenes Lentzsches Exotikum ist ein Wachmacher für jeden in der kritischen Klassikerbefragung ehrenvoll verkalkten Großstadttheaterbetrieb. Um den Knoten zuzumachen, gibt es in diesem Frankfurter Frisier- und Spielsalon dann noch einen kleinen mittelalterlichen Totentanz, lauter Perücken-bewehrte weibliche Clowns, die zu gemütlicher Rummelplatzmusik hysterisch kreischen und lachen und dann auch morden. Das Stück ist also bockelernst und unheimlich lustig, es ist frech, flott, schnell, grell. Wunderbares Antitheater, das der etablierten Kunst ans Bein fährt. Und ein Geheimtipp fürs Berliner Theatertreffen!
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