Hochprozentiges Geisterschiff

BILD DES JAMMERS Christoph Marthaler inszeniert in Zürich Shakespeares "Was ihr wollt" als letztlich geglückten Schiffbruch, denn nur gescheitert kann die Sehnsucht nach Liebe fortdauern

Aus den Zeiten, als Joschka Fischer politisch noch etwas heller im Kopf war, stammt seine aufrüttelnde Beschreibung des Bundestags als der "größten Alkoholikerversammlung" Deutschlands. Die Diagnose gilt wahrscheinlich heute noch, und das Beispiel macht Schule: die größte Alkoholikerversammlung Zürichs ist derzeit im stadteigenen Schauspielhaus zu besichtigen. Der Regisseur Christoph Marthaler hat, wieder einmal, eine schläfrige, langsame, in Trance befindliche Welt inszeniert, und schuld an all der Lähmung ist König Alkohol. Es haben nämlich alle Liebeskummer, und wen das Schicksal unerfüllten Sehnens heimsucht, der trinkt. Man könnte natürlich auch was anderes machen, Langlauf, Fitness-Studio, vielleicht auch Schach spielen oder Bücher lesen. Das alles lässt sich aber nicht so schön auf die Bühne bringen wie die stumpfe Apathie des Alks, zumal die handelnden Akteure ja von Shakespeare sind.

Was ihr wollt: wieder so eine Welt in Zeitlupe also, wieder so ein Wartesaal ins Nirgendwo. Wer trinkt, ist vom Gesang nicht weit entfernt - womit Marthaler gleich bei seiner Lieblingsbeschäftigung ist, dem musikalischen Beschwören einer großen gesellschaftlichen Ermattung. Das Leben ist furchtbar, singen wir ein trauriges Lied. Von Thomas Ravenscroft etwa oder von John Dowland: Komm, süßer Schlaf.

Der Schlaf aber wollte in Zürich nicht kommen, jedenfalls nicht im Zuschauerraum. Es ist nämlich eine unglaubliche, unglaublich dichte, feine, durchgearbeitete Inszenierung, die da zu besichtigen ist. Sie geht am Schluss nicht auf (weil das Stück nicht aufgehen kann), sie hat ein paar Schwächen und Ungereimtheiten. Aber sie ist atmosphärisch, in der Schauspielerführung und in der Nutzung der Metaphern und Motive das Beste, was ich in dieser Saison gesehen habe.

Der Beginn ist Programm: Wir sehen in einen Schiffsbauch. Trübes Licht. Phlegmatische Körper liegen, sitzen, hocken, wippen, wiegen sich in einer Art Lounge oder Bar oder Mitteldeck. Eine im Halbschlaf befindliche Bordkapelle bringt sirrende, sich verlierende Töne hervor, der Narr oben auf der Empore stößt immer wieder helle, kurze Klagelaute aus, dazwischen ein quälendes Stöhnen irgendwelcher Kranker und der leise stampfende Takt der Maschine. Es ist grauenvoll.

Marthaler hat den Schiffbruch, der am Beginn des Stückes steht, zum Leitmotiv für das ganze Stück erhoben: Illyrien ist ein morscher alter Dampfer (bald wird man auch sehen: ein alter Theaterdampfer), hier residieren nur Gestrandete und Strauchelnde, meist in Schräglage wie der auf Brautschau befindliche Junker Bleichenwang, hier hält man sich am nächsten Glas fest und bisweilen auch an Atlanten, damit man den Überblick nicht völlig verliert. Es ist klar, dass Marthaler Rimbauds trunkenes Schiff zitiert, jenen zerfressenen Kahn, mit dem der Dichter sich identifiziert und über den er fast wollüstig den eigenen Untergang besingt.

Die Bühnenbildnerin Anna Viebrock hat die Empore des Züricher Schauspielhauses als eine Art Zwischendeck auf die Bühne gespiegelt. Was wohl heißen soll: Auf diesem Schiff wird Theater gespielt, Stellvertreter-Theater, die Gefühle sind nur hergestellt. (So sagen manche dann auch ihren Text vor sich her, nach dem Motto: ich sprech ihn mal weg, was geht mich das an. Die distanzierte Haltung, das Sich-Selbst-Zuschauen bei der Arbeit, die Selbstironie, der Selbstkommentar - auch dies schöne Marthaler-Tugenden, die erst hier, bei Shakespeare, jenseits der Reality-Klamotte oder Polit-Persiflage, richtig zu blühen beginnen).

Die Liebe ist längst schal und kalt geworden auf diesem Schiff und die Liebenden unfreiwillig komisch: Orsino gleicht in der Darstellung von André Jung mehr einem resignierten, schmierigen, ältlichen, abgewrackten Schlagersänger als einem verzweifelten Liebhaber. Er ist umgeben von Flaschen hochprozentigen Inhalts und lässt sich schön fallen in die Depression. Orsino liebt Olivia, die ihn aber nicht zurücklieben kann, da sie ihn nicht besonders mag und außerdem um ihren toten Bruder trauert, und je weniger sie ihn will, desto störrischer hält Orsino an seiner Werbung fest. Es scheint, dass ein Gefühl hier bereits zur Pose, zum Selbstzweck geronnen ist, dass sich hier jemand im Unglück einrichtet, um sich nicht bewegen zu müssen.

An der Figur des Orsino lassen sich die Qualitäten und Schwächen der Inszenierung zeigen: Einerseits ist das eine wunderbare (und sehr aktuelle) Personenbeschreibung, das Schmierige, das Bewegungslose, das Pantoffelheldische, dieses klebrig-alkoholische "Dann will ich sie erst recht". Andererseits: Wenn man den Text ernst nimmt und nicht nur als Rollenspiel begreift, in dem alle verzweifelt überkreuz lieben, dann lässt sich ziemlich schwer nachvollziehen, warum die als Mann verkleidete Viola ausgerechnet diesem Orsino verfällt, der doch auch in ihren Augen nur ein Bild des Jammers bietet. Was will sie von dem? Ist sie die große Trösterin? Will sie als Co-Alkoholikerin Erfüllung finden? Judith Engel, die die Viola spielt, will offenkundig nichts von alledem. Sie ist in dieser Inszenierung ein verwundertes, aber immer auch etwas pampiges Kind, das sich von Orsino als Postillon d'Amour einspannen lässt, vor Olivia den Werbe-Text aufsagt und im Grunde nur, an der Rampe oder am Balkongeländer, ihren Träumen nachhängen möchte. Das ist nicht viel.

Auch die restlichen Zwei des missglückenden Vierers entwickeln deutlich neurotische Züge: Die Olivia der Karin Pfammater ist schon reiferen Alters und hat etwas notorisch Zickiges, ständig muss sie ihr Minikleid hochrutschen lassen und ein kühles, übereifriges Begehren zeigen. Die Frau nervt (und das ist gar nicht so einfach zu spielen). Der Sebastian des Markus Wolff, Violas angeblich ertrunkener Bruder, ist eine bleiche Maske; kopfüber hängt er sich ans Geländer und würgt ausgiebig Salzwasser hervor: das Leben ist zum Kotzen, aber manchmal wüsste man auch gern warum.

Solche Fragen werden von Marthaler bekanntlich nur ungern beantwortet. Dass die Aufführung trotzdem weltmeisterliches Niveau besitzt, liegt an seiner enormen Fähigkeit, Stimmungen herzustellen, einen eigenen Kosmos zu schaffen und musikalisch zu grundieren. Illyrien ist die Hauptstadt der Melancholie, die Metropole der Schlaffheit, das ist einfach so - und hat mit dem Liebesleben derer im Zuschauerraum mehr zu tun, als uns lieb sein kann. Zwar tauchen immer wieder störende Slapstick-Elemente auf, fette Männer rollen und rülpsen und röcheln, Bleichenwang rennt an die Wand und pflegt eine merkwürdige Purzelbaum-Kultur, und Sir Toby wird von Josef Ostendorf zu einem gutmütigen, saufenden Monster aufgeblasen, das bei den (überflüssigen) Kampfszenen Obelix-artig aufräumt - aber all diese Zombies und Marginalisierten schaffen eine transitäre, halluzinogene Stimmung, sie alle gehören zum Chor der verlorenen Seelen, der mit zarter Inbrunst von der Sehnsucht und der Unmöglichkeit der Liebe singt - und damit den Boden bereitet für die eigentliche Hauptfigur, den unglücklich in Olivia verliebten Malvolio.

Der famose Ueli Jägi karikiert in der Rolle ein bisschen den Zürcher Geschäftsmann von heute, calvinistisch leicht gehemmt, moralisch korrekt, aber für jede Versuchung offen. Das Unbeholfene, Steife, das dieser Möchtegern-Liebhaber in seinen grässlichen gelben Strümpfen ausstrahlt, seine eselhaften Liebeslaute beim Lesen eines Briefes, sein verkrampftes Lächeln, das er für verführerisch hält - das barmt einen. Marthaler lässt diesen Missbrauchten, dem ständig falsche Ratschläge erteilt werden und der gutwillig darauf eingeht, später in einem furchtbaren zweiteiligen Damenkostüm auftreten, die Inkarnation der Lächerlichkeit und des Unglücks, des endgültigen Verlusts von Würde.

Die Aufführung wird zusammengehalten und unauffällig dirigiert von der Figur des Narren: der Countertenor Graham F. Valentine wickelt ständig Frauen in seinen Schottenrock und interpretiert die Gefühlslagen der anderen - egal ob im Liebeslied der Renaissance oder im Popsong. Manchmal sagt er auch nur Schlagertexte auf. Eine skurrile Gestalt, ein Außenseiter wie all die anderen, auf schwankendem Grund.

Es ist also ein glücklicher Schiffbruch, den Christoph Marthaler da in Zürich hingelegt hat - und es scheint, als habe seine Intendanz mit dieser Inszenierung erst richtig angefangen. Das Finale hat er nur als Hörspiel inszeniert: natürlich finden die "richtigen" Paare bei Marthaler nicht zueinander. Sie sitzen in Reih und Glied und werden einander zugeteilt. Wenn die Ehe beginnt, ist die Sehnsucht zu Ende, jener Zustand, der Marthaler offenbar als der einzig erstrebenswerte erscheint.

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