Wie spielt man Psychiatrie? In der Regel gibt es auf der Bühne zwei Möglichkeiten: die extrem stilisierte, artifizielle Form, die etwa von Peter Weiss´ Verrückten aus dem Pariser Hospiz von Charenton geboten wird, die unter Anleitung des Marquis de Sade eben Theater spielen. Und es gibt die uns alle furchtbar betroffen machende Sozialreportage aus dem Stationsalltag, die den gesellschaftlichen Missstand bloßlegt.
Lars Noréns Klinik gehört leider zur letzteren Kategorie - mein Gott, wie kann man heute noch so ein altmodisches Stück schreiben? Norén, der sich einst in experimenteller Lyrik versuchte und in den achtziger Jahren als neuer Strindberg die Ehe- und Familienhölle erforschte, hat sich seit neuestem dem Abbildungs-Theater ergeben. Zuerst, im Personenkreis 3.1, ließ er uns einen Blick auf Randexistenzen in der Bahnhofshalle werfen, Zuhälter, Gestrandete, Nutten, Junkies. Jetzt ist die Klapse an der Reihe: ein tristes Perpetuum Mobile aus der Bahn geworfener Gestalten, Restposten der Industriegesellschaft, eine schräge Mixtur aus Unter- und Mittelschicht. In Zürich kreisen sie drei Stunden lang umeinander, bieten gelegentlich Wutausbrüche und Gesangseinlagen und verstummen dann wieder.
Psychiatrie auf der Bühne stellt den Regisseur vor jede Menge Probleme: die endlose Ödnis der sinnlos, ereignislos dahinschleichenden Zeit, die von Kaffeetrinken und Fernsehen dominiert wird, die strukturelle Gewalt, das graue Einerlei sind auf dem Theater schlecht darstellbar. Der Regisseur muss also selber strukturieren, Kapitel bilden, Zäsuren schaffen - und Falk Richter macht das in Zürich sehr überlegt, er bildet Paare und inszeniert Soli, er lässt die Zeit vor sich hintriefeln und die aufgestaute Spannung sich dann in Hassausbrüchen entladen. Richter entgeht weitgehend der Versuchung, die Psychiatrie-Patienten dem Publikum voyeuristisch preiszugeben - zwar inszeniert auch er Ticks, Bewegungs-Stereotypien, Wahnvorstellungen, zwar zeigt er notgedrungen jenes Fall-Arsenal vor, das Lars Norén aus dem Psychiatrie-Lehrbuch abgeschrieben hat - aber er ist dabei immer behutsam, nie aufdringlich und belehrend.
So sehen wir jene Trübsal aus wilder Wut, Sedativa und Zigaretten, aus Stimmungsaufhellern und verschmuddelter Jogginghose, aus Sitzecke, Medikamentenschrank, Essensausgabe und Besuchszeit. Wir sehen ein anorektisches Mädchen, das sich umbringen will; einen AIDS-infizierten Werbefachmann mit Nervenzusammenbruch; eine grelle Hysterikerin, die sich ständig umkleidet, sich den Männern auf den Schoß setzt und nebenbei sehr schön auf dem Klavier improvisiert; einen in sich zusammengesunkenen Tierfreund oder, wie sich später herausstellt, Tierliebhaber; einen geistig stets wegdriftenden Schizophrenen, der manchmal aufwacht und dann "das Johannes-Evangelium" sein will; einen gutgelaunt-desinteressierten Pfleger, der seinen Beruf nur als Job begreift; und einen analaggressiven jungen Neonazi, für den Frauen nur Scheiß-Fotzen sind und der alle anderen verdächtigt, schwul zu sein, was er aber höchstwahrscheinlich selber ist.
Vor allem den jüngeren Züricher Schauspielern gelingen manche Kabinettstückchen, schöne Phasen der Absurdität und surreale Dialoge - allen voran Marc Hosemann als aggressions-berstender nazoider Jung-Sadist macht mit seinem wüst sexualisierten Vokabular, mit seiner mühsam im Zaum gehaltenen Körperwildheit manche Punkte. Katja Kolm zeigt uns, dass die Hysterie eine immerwährende Modenschau ist - nicht nur der Kleider, sondern auch der Launen. Zdenko Jelcic spielt einen traumatisierten Bosnier, dem man im Ethno-Krieg die Familie vergewaltigt und verstümmelt hat, und Sebastian Rudolph gibt den ratlosen bisexuellen Werbefachmann, der immer seine Gefühle strukturieren will und dann doch nur seine alten Ehe-Dialoge aufsagt.
So sprechen sie alle vor sich hin, so finden sie sich zu manchmal anrührenden Gruppen und Paaren, Borderlinerin und Depressiver oder Mutter und Sohn in trauriger Sprachlosigkeit. So schlagen sie verbal einander und vor allem sich selbst - und als Zuschauer sitzt man leicht pikiert dabei und denkt: so what? Alles schön arrangiert, aber man kannte das eigentlich schon. Lars Norén hätte dringend einen weiteren, "normaleren" Handlungsstrang einführen müssen, um die lähmende Stations-Atmosphäre dramaturgisch aufzubrechen und sie in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit überhaupt erst auszuleuchten, kafkaesk schimmern lassen zu können.
So aber ist der Regisseur alleingelassen mit der fürchterlichen Langeweile dieses Stückes, mit einer Nummernrevue. Falk Richter macht das Beste draus, er variiert immer wieder Lautstärke und Tempo, er bildet immer neue Paare und Konfliktpunkte. Schließlich gibt es einen vorhersehbaren Selbstmord, alle sind schwer erschüttert, und der schizophrene Matthäus-Evangelist bleibt allein zurück. Er steht im Regen (natürlich in schönster Beleuchtung), im Gewitter, im nervenden, aus der Regie zugespielten Dauerton der kapitalistischen Gefühlsvernichtungsmaschine.
Naja, irgendwie muss man ja an ein Ende kommen.
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