Dass Angela Merkel im harten Politikgeschäft Hosenanzüge bevorzugt und jeder zweite Theaterschaffende Glatze, Kapuzenpulli und Ohrring trägt, sagt über deren sexuelle Orientierung eher wenig aus: es ist Mode, Trend, es gehört zum Zugehörigkeits- oder Abgrenzungsritual, zur Selbstdefinition. Und doch stammen diese Kleidungs-Codes ursprünglich aus den schwulen und lesbischen Minderheiten-Kulturen. Wer sich vergegenwärtigt, wie deren Lage noch in den fünfziger Jahren aussah, mit Kuppeleiparagraph und Strafbarkeit der Homosexualität, der ahnt etwas vom Tempo des Wandels, der in der neuigkeitsbesoffenen Marktwirtschaft auch aus ehemals verteufelten Minderheiten Trendsetter macht.
Um nun zu erklären, wie Moden, Zeichen, Verhaltensweisen einer zunächst ausgegrenzten Gruppe mehrheitsfähig werden, bräuchte man ein theoretisches Konzept - und nicht nur den allgemeinen Verweis darauf, dass die Ideen der Subkultur von den Etablierten schon immer schwammartig aufgesogen, integriert und kommerzialisiert wurden, vom Underground-Film bis zum Garagenrock. Aber was wurde da integriert und warum? Welches Bedürfnis steht dahinter, wenn heute Männer immer mehr weibliche Codes benutzen? Ist die Gesellschaft schwuler geworden, oder nur liberaler? Oder ist das Naheliegendste wahr: der Umgang mit solchen Zeichen ist heute einfach nur ein großer Joke - so wie man DDR-Nostalgie-Parties veranstaltet?
Eine wirkliche Theorie dazu gibt es im Züricher Museum für Gestaltung nicht, sondern nur eine große Materialsammlung. Aber auch die hat es in sich. Wir begrüßen herzlich: Marlon Brando, ein Idol der Schwulenbewegung. David Beckham, Ikone der Metrosexuellen. Madonna, Patronin aller öffentlich küssenden Lesben. Also: man muss nicht schwul oder lesbisch sein, um zum Protagonisten einer Bewegung aufzusteigen. Man muss nur Stil haben. Bei dem maskulin wirkenden frühen Brando (etwa in dem Film The Wild One) waren es die makellos weißen T-Shirts, die von den Homosexuellen übernommen wurden. Bei David Beckham, Fußballstar, Familienvater, verheiratet mit einer Ex-Popsängerin, ist es der Mix aus hetero- und homosexuellen Attributen, die Pferdeschwanz-Frisur oder auch Glatze, die teure Kleidung, der Klunker, der ihn sowohl für Frauen als auch für Männer attraktiv erscheinen lässt. Die eindeutig hetero-fixierte, aber von Schwulen hymnisch verehrte Madonna küsste auf der Verleihung der MTV-Awards 2003 Kollegin Britney Spears mit der Zunge - und fand begeisterte Nachahmerinnen.
Das also sind die Stars, die Trends setzen. Oder sind sie nur Ausführende eines viel tiefer liegenden, breiten Bedürfnisses? In Zeiten großer Verunsicherung darüber, was denn die eigene Geschlechtsrolle sei, ist das Androgyne wieder gefragt - Mick Jagger war erst der Anfang. Man spielt vor allem in der Mode mit den Versatzstücken männlicher und weiblicher Identität, und siehe da: diejenigen, die besonders gut damit spielen können, sind die Schwulen. Viele schräge Trends auch in Werbung, Musik, Film und Kunst stammen aus dieser Subkultur - und die Ausstellung belegt schön bunt und mit produktivem Chaos, wie sehr das Effeminierte und das Aggressive, das Spielerisch-Parodistische und das Martialisch-Rasselnde unter Aufhebung normaler Geschlechts-Zuschreibungen den Kulturbetrieb dominieren.
Am schönsten ist das natürlich an der Musik und den Plattencovern der siebziger bis neunziger Jahre nachzuvollziehen: das ist eine große Spielwiese des sexuellen Crossover, und man muss nur die Heroen der Punk-Bewegung, aber auch Lou Reed, David Bowie, Elton John, Prince, Michael Jackson, Freddie Mercury vor seinem geistigen Auge vorbeiziehen lassen, um zu wissen, was da passiert ist. Im anderen Mannschaftsteil spielen dann, glatzköpfig, Grace Jones und Sinéad O´Connor.
Die Ausstellung geht aber auch zurück in die Anfänge etwa der lesbischen Bewegung: die ersten Anzüge, die Marlene Dietrich trug, hat man aus dem Deutschen Filmmuseum ausgeliehen, man verfolgt Dandy und Garconne, Oscar Wilde und Greta Garbo, den "Nähkreis" homosexueller Hollywood-Stars, den Kult um schwule Matrosen und Soldaten ("Diesel"-Jeans beantwortete die US-Debatte um die Tauglichkeit Homosexueller für die Armee mit einer Kampagne, die Kameraden küssende Matrosen zeigte); spätere Ausstellungs-Kapitel betrachten die Disco-Kultur der New Yorker Gay Communitiy und die Drag-Queen-Szene.
Manche Codes dieser Kultur haben, über viele Umwege, Eingang gefunden auch in die heutige heterosexuelle Szene, in der man sich stylt und die Zeichen wild mischt, einfach um aufzufallen, zu gefallen oder um aus der (üblichen) Rolle zu fallen. Selbst die Love-Parade war ja nur die Mainstream-Version des Christopher-Street-Day. Umgekehrt gilt: in einer oberflächlichen Gesellschaft sind bestimmte Zeichen gut verkäuflich - gay sells. Wenn ein Schweizer Telefondienstleister einen mit Rosen wedelnden, effeminierten Charmeur auf Plakaten für sein Unternehmen werben lässt, dann steckt die Annahme dahinter, dass Schwule besonders höflich und zuvorkommend seien. Solche Klischees haben mit schwulen Selbstbildern und Realitäten natürlich nur am Rande zu tun, aber marktstrategisch funktionieren sie offenbar bestens.
Die heutige Hetero-Party-Szene bedient sich bei allen möglichen Zeichensystemen, bei Sado, Science Fiction, Gruft. "Gay Chic" hat da nur sehr optional, also: nicht unbedingt etwas mit sexuellen Präferenzen zu tun, sondern vor allem mit Oberfläche, Verhüllung, Verpackung. Hier werden Attitüden verkauft, Haltungen, Moden - von allen, für alle. "I am a deeply superficial person", ich bin ein zutiefst oberflächlicher Mensch - so brachte Andy Warhol diese Ambivalenz schön kokett und ironisch auf den Punkt.
Und so stehen wir vor dem merkwürdigen Faktum, dass Calvin-Klein-Feinripp-Unterhosen und Waschbrettbäuche, enthaarte Männerbrüste und Militärklamotten offenbar zum allgemeinen Kulturgut gehören, obwohl sie ursprünglich von der schwulen Szene favorisiert wurden. Man kann alles mit allem kombinieren, sagt uns diese Ausstellung. Und: die heterosexuellen Disco-Gänger sehen heute oftmals schwuler aus als die wirklichen Schwulen. Die Kleidung ist Verkleidung: Spiel ohne Grenzen.
Gay Chic, Museum für Gestaltung Zürich, bis 16. Juli. Die (Frauen-)Zeitschrift Annabelle hat zur Ausstellung eine Sondernummer herausgebracht. Am Donnerstag, 8. Juni, findet im Museum für Gestaltung ein Kolloquium statt: "Un/Sichtbarkeit und Queerness. Politiken des Sehens und Aussehens".
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