Fehlenden Mut zum Aufbegehren kann man ungarischen Lehrern gerade nicht vorwerfen. Sie schwänzen die Schule, rufen zum zivilen Ungehorsam auf und verlangen von Premier Viktor Orbán, „sich für die letzten sechs Jahre zu entschuldigen“. Bereits seit Jahresbeginn treiben die Pädagogen die Regierung vor sich her, eine Bildungsministerin musste bereits abdanken, ein Runder Tisch wurde eingerichtet. Wenn in diesen Wochen im ganzen Land wieder zehntausende Lehrer, Schüler und Eltern gegen die Überlastung und Ideologisierung des Bildungssystems auf die Straße gehen und zahlreiche Schulen bestreiken, sieht sich die Regierung mit den größten Protesten seit den Demonstrationen gegen die Internetsteuer Ende 2014 konfrontiert.
Anhänger der Pfeilkreuzler
Orbáns „nationalkonservative Revolution“ machte auch vor den Schulen nicht halt. Ohne vorherige Konsultationen mit Lehrern oder anerkannten Experten wurde das Bildungssystem 2012 einer totalen Reform unterworfen. Seither fällt das Urteil über die Folgen vielfach vernichtend aus. „Wir können einfach nicht mehr. Die Qualität des Unterrichts leidet. Die Kinder leiden“, sagt Olivér Pilz, Mathematiklehrer am Miskolcer Herman-Ottó-Gymnasium. Seine Schule in Nordostungarn veröffentlichte im Januar einen Brandbrief, um die miserable Lage der Lehrer anzuprangern. Innerhalb von Tagen schloss sich dem das Personal hunderter Schulen an. Die daraus entstehende Tanítanék-Bewegung („Ich würde unterrichten“) ist heute treibende Kraft der Protestaktionen.
Orbán erhob die Bildungsreform von 2012 zur „größten Errungenschaft“ seiner Fidesz-Partei. Viele Kommunen, die bis zu dieser Zäsur noch Verantwortung für die Schulen trugen, waren hochverschuldet und konnten ihren Pflichten oft nicht nachkommen. Daraufhin kassierte Orbán die Autonomie aller gemeinschaftlichen Schulen des Landes – auch die der tadellos funktionierenden.
Seither werden die Anstalten von einer zentralisierten Schulaufsichtsbehörde, dem Klebelsberg-Institut (KLIK), kontrolliert. Dass es sich beim Namenspatron Kuno von Klebelsberg um einen antisemitischen Innenminister der Zwischenkriegszeit handelt, löste keinen Aufschrei aus. „Das sollte man nicht überbewerten, das war wohl einfach der persönliche Geschmack des zuständigen Ministers“, meint der Bildungsforscher Tamás Kozma, emeritierter Professor der Universität Debrecen. Auch als Schriftsteller wie József Nyírö in den offiziellen Schulkanon aufgenommen wurden, protestierte bis auf die jüdischen Gemeinden im Land kaum jemand. Nyirö war Sympathisant der Pfeilkreuzler, der ungarischen Nationalsozialisten. „Diese Bücher liest ohnehin keiner“, beschwichtigt Kozma.
Tatsächlich waren aus Sicht vieler Lehrer zunächst praktische Sorgen wichtiger wie der Bezug von Kreide und Papier von der neuen Superbehörde in Budapest. Die Schuldirektoren sahen sich zu bürokratischen Zombies degradiert, die Akten wälzen und Anträge schreiben. Bei engagierten Pädagogen widersprach das dem beruflichen Selbstverständnis. Auch Bildungsforscher Kozma bestätigt, dass die kurze Phase einer relativen Autonomie der Schulen, wie sie dank der Wende von 1989/90 zustande kam, „mit der Reform von 2012 nun schlagartig beendet wurde“.
Auch Unterrichtsbesuche und Lehrerbewertungen sind nur noch der Behörde vorbehalten. Schnell fühlten sich viele Erzieher vom KLIK misstrauisch beäugt. „Wir haben nicht das Gefühl, dass es dem KLIK um einen konstruktiven Dialog mit uns darüber geht, wie wir unseren Unterricht verbessern können, sondern um Kontrolle“, fasst Lehreraktivist Olivér Pilz die Stimmung zusammen. Außerdem beklagen die Lehrer mangelnde Transparenz darüber, anhand welcher fachlichen Grundlagen neuerdings über Karrierewege entschieden wird. „Oft gibt es im Kollegium wenig Verständnis für die Beförderung bestimmter Lehrer“, heißt es in dem Miskolcer Brief. Offenbar sind Loyalität und Gesinnung wichtiger als Expertise und Engagement.
Für Frustration sorgt auch das neue Schulbuchsystem. Die Regierung machte die Liberalisierung des Buchmarktes rückgängig und zentralisierte die Produktion in einem staatlichen Verlag. Plötzlich waren altbewährte, qualitativ hochwertige Lehrbücher nicht mehr zulässig. Zudem wiesen die neuen, ohne ausreichende Vorlaufzeit vorgelegten Bücher häufig sachliche Fehler auf. Aufmerksame Leser konnten sich bei der Lektüre ein Bild davon machen, wie die Regierung ihr Gesellschafts- und Geschichtsbild zu vermitteln suchte. Über unbrauchbare Karten, schlichtweg falsche oder umstrittene Fakten zur Abstammung der Ungarn sowie darwinistische und antisemitische Lesarten beschwerte sich der Verband der Geschichtslehrer. In einem Heft für Zweitklässler finden sich schon mal Witze über dumme Hausfrauen, die sich zu Recht von wütenden Vätern anschreien lassen müssen. Mit Korrekturen nahm man sich in Budapest Zeit.
Vielerorts herrscht der Eindruck, dass die Regierung mit den Schulen experimentiert. Oftmals sind 38 Unterrichtsstunden pro Woche die Regel. Viele Eltern klagen über erschöpfte Kinder und machen sich Sorgen, dass Überlastung der natürlichen Neugierde von Schülern schadet. Viktor Orbán will Ungarn zur „Arbeitsgesellschaft“ umbauen. Eine „grundlegende Modernisierung der Bildung“, die Lehrer wie Olivér Pilz fordern, genießt keine Priorität.
Aus der Apathie erwacht
Derzeit wird der einberufene Runde Tisch nicht angenommen. „Die Regierung verhandelt dort nur mit sich selbst“, sagt Pilz, wegen der Dominanz Fidesz-naher Institutionen und des Fehlens der Tanítanék-Bewegung. Die einzubeziehen hätte angesichts des bisherigen Konfrontationskurses wohl einen zu großen Gesichtsverlust für Orbán bedeutet. Die Regierung kam schließlich nicht umhin, zum Ende des Schuljahres eine Auflösung des KLIK zu beschließen. Die Lehrer seien skeptisch, auch wenn das symbolische Entgegenkommen zeige, dass „die Lehrer Orbán bereits jetzt eine empfindliche Niederlage zugefügt haben“, meint András Bíró-Nagy, Forschungsdirektor des Budapester Thinktanks Policy Solutions.
Anfangs hat der Regierungschef die Macht der Lehrer offenbar unterschätzt, mittlerweile aber erkennen müssen, dass drei Viertel der Bevölkerung und zwei Drittel der Fidesz-Wähler die Proteste unterstützen – und das in einem sonst so gespaltenen Land. Die Lehrer sehen ihren Auftrag nicht zuletzt in diesem Aufrütteln. Auch die Lehrerin aus Pécs schöpft Hoffnung: „Ich habe seit Ewigkeiten wieder das Gefühl, dass Menschen aus ihrer jahrelangen Apathie erwachen.“
Christian-Zsolt Varga ist freier Autor und zählt zum Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung
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