Es gibt eine Episode in Rainald Goetz’ Roman Johann Holtrop, da steht ebenjener am Fenster des Hilton in Berlin und schaut hinunter auf den Platz vor dem Deutschen Dom mit den noch leeren Weihnachtsmarktbuden. Im Fernsehen stellt Verona Feldbusch (heute Pooth) in der Talkshow Riverboat gerade den neuen, von ihr verkörperten Feminismus vor. Holtrop wird sodann einen Tobsuchtsanfall bekommen, weil der Concierge ihm das Aufputschmittel Tradon nicht ohne Rezept besorgen kann. „Beschmutzt, bespuckt und ausgebuht“, wie er sich nun fühlt, geht Holtrop daraufhin ins Bad „und legt sich dort, in Barschelstimmung angekommen, in das heiße Badewannenwasser“. Das ist kalt und böse, wie die FAS in ihrer Rezension geschrieben hat. Was sie unterschlagen hat: Es ist auch sehr komisch.
Rainald Goetz hat wieder einen Roman geschrieben, seinen ersten in diesem Jahrtausend. Entsprechend groß war die Erwartung, entsprechend groß die Vorschuss-Häme: Kann Rainald Goetz das noch? Dem Vernehmen nach soll dieser eine nicht unkomplizierte Geburt gewesen sein. Als der Autor Ende März den Berliner Literaturpreis der Stiftung Preußische Seehandlung verliehen bekam und ein paar erste Seiten aus Johann Holtrop vorlas, wurde später am Abend geraunt, dass dieser Roman alles andere als abgeschlossen sei. Vielsagende Blicke. Doch nun ist Rainald Goetz’ neues Werk ganz ohne Frage das, was angekündigt worden ist: ein Roman! Und anders als sein Erstwerk Irre beispielsweise ein sehr klassisch erzählter noch dazu.
Sein Protagonist Dr. Johann Holtrop wird uns als Vorstandsvorsitzender der fiktionalen Assperg Medien AG vorgestellt, die deutliche Ähnlichkeiten mit dem realen Bertelsmann-Konzern aufweist. Wir lernen ihn auf dem Höhepunkt seiner Karriere kennen: 48 Jahre alt, „Herr über 80.000 Mitarbeiter weltweit und eine Bilanzsumme von 20 Milliarden DM in 1999, von 15 Milliarden Euro im Jahr 2000.“ Wir erleben Holtrops Hybris, seinen Fall, sein erneutes Aufbäumen und schließlich sein Ende, ein klägliches, das durch einen Fehltritt im Wortsinn ausgelöst wird, den man nur dumm nennen kann.
Dieser Johann Holtrop hat sich mit einer Strategie nach oben gearbeitet, die an Gertrud Höhlers Kanzlerinnenschelte Die Patin erinnert. Höhler hat Angela Merkel darin vorgeworfen, sie kopiere nur die Erfolgsrezepte anderer. Und Goetz schreibt auch über Holtrop: „Er übernahm per Nachahmung, was er gut fand, identifizierte die Defizite, die er vermeiden wollte, und glaubte, er würde jetzt, weil er alles erkannt hatte, die Fehler vermeiden und alles richtig machen. (...) So machte er Karriere, hell und brillant, wie er im Auftreten war, die optimierte Summe aller, eines jeden, der ihm gerade gegenüberstand“. Seine Kollegen hält Holtrop allesamt für subalterne Idioten: „Finanzflasche Ahlers, Schleimflasche Wenningrode, Angstflasche Assperg, Egoflasche Leffers und Flascheleerflasche Thewe usw.“
Willkommen in der Führungsetage der Assperg Medien AG, wie ihr Vorstandsvorsitzender sie sieht. Flascheleerflasche Thewe wird schnell entsorgt, hernach sinkt jedoch auch Holtrops Stern: „Das Zeitalter der Finsternis war angebrochen“, wie Goetz schreibt.
Krise und Bewährung
So beginnt der zweite Teil des Buches, am Ende wird Holtrop mit dem Hubschrauber auf Mallorca landen und von Firmenchef Berthold Assperg und dessen Frau Kate seine Entlassungspapiere entgegennehmen. Der einstige Top-Manager hat Fehler gemacht, wie jeder irgendwann, und mit einem Mal ist er unter den Kollegen nun der Freak: „ein Irrer, ein Psychopath nur ohne Hitlerbart“.
Drei Teile hat dieser Roman, und auch der letzte beginnt im Dunkeln. Rainald Goetz entwirft in 24 schnellen Zeilen ein Untergangsszenario, das Jakob van Hoddis’ Weltende in seiner Lakonie ebenbürtig ist. Und dann geht Johann Holtrop nach Hause. Von hier an könnte es nun einfach weiter bergab gehen: Das Haus fort sein, die Frau wegrennen (letzteres wird zuvor als Möglichkeit angedeutet). Doch dieser dritte Teil, mit sechzig Seiten nur halb so lang wie jeweils die beiden anderen, hat es in sich. Holtrop wird zuerst ein Fall für die Psychiatrie, macht anschließend noch mehr Millionen als vorher und wird Vorstandsvorsitzender einer Firma, von der er nicht recht weiß, was das für eine ist: „Absturz und Wiederaufstieg, Krise und Bewährung, Johann Holtrop, The Comeback Kid“. Ohne alles verraten zu wollen: Danach aber geht es dann wirklich nach unten.
Auch der Romanheld hätte übrigens gerne ein Buch geschrieben: „Johann Holtrop, Die Freiheit der Wirtschaft, oder so ähnlich.“ Ja, sogar einen Roman hielt er für denkbar, immerhin hatte er eine Professur in „Wiefelspütz oder Wermelskirchen“ angeboten bekommen. Sein Autor aber hat einen anderen Untertitel gewählt: Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft heißt dieser Roman, und man kann das Wort Abriss wenden wie man mag: Es bleibt deprimierend.
Als Goetz sein Buch vor vier Wochen im Suhrkamp-Verlag vorstellte, erklärte er, Johann Holtrop sei ein historischer Roman: „Die Geschichte, die er erzählt, spielt in der Unerkennbarkeitsferne der Jüngstvergangenheit der frühmittleren Nullerjahre.“ Unerkennbarkeitsferne ist ein sehr schönes Wort. Nur Geschichte ist das, was uns hier erzählt wird, nicht: „Das Phantasma der totalen Herrschaft des KAPITALS über den Menschen“ ist am Ende des Romans vielleicht ausgeträumt, aber deshalb bleibt ja nicht die ganze Welt vor diesem Phantasma verschont.
In der Text+Kritik-Ausgabe zu Rainald Goetz aus dem Jahr 2011 zitiert der Kulturwissenschaftler Jürgen Bonz einen Text von Goetz, der 1984 unter dem Titel „Fleisch“ in der Spex erschienen ist: „Jeder, der schreibt, tritt an unter diesem einen strengen Gesetz: Ist das die Welt? Ist das richtig? Ist das wichtig? Ist das brauchbar im Kampf?“ Nun hat Rainald Goetz einen Roman über ein großes Medienhaus geschrieben, in dem alle einander verachten. Und über einen Mann, der denkt, er könne von der „strukturellen Kaputtheit des Systems der Verachtung“ profitieren, aber schließlich selbst daran kaputt geht. Das ist kein Tatsachenbericht, doch die Welt, so wie sie ist, lässt sich in Johann Holtrop recht gut erkennen. Ist das richtig? Eine schwierige Kategorie, über die man gerne mit dem Autor sprechen würde, doch der hat sich bei der Vorstellung seines Buches streng verbeten, ihn über irgendeiner Suppe zu fragen, was er denkt.
Wahnsinns-Tempo
Also wichtig: Ja, das Buch ist wichtig, denn für diese Geschichte braucht es einen wie Rainald Goetz. Man stelle sich vor, ein betulicherer Autor hätte sich den Bertelsmann-Konzern und dessen jüngstvergangene Firmengeschichte unter dem damaligen Vorstandsvorsitzenden Thomas Middelhoff vorgenommen, hätte sich Fantasienamen für alle Beteiligten und Tochtergesellschaften ausgedacht und einen Roman über Verachtung und Profitgier geschrieben, der womöglich noch ganz offensiv etwas über die Krise hätte erzählen wollen. Wollte das einer lesen? Nein, es muss schon Goetz selbst diese Geschichte erzählen: Weil er das in seinem Wahnsinns-Tempo tut und die banalsten Dinge in solche Sätze packen kann: „Kurz darauf saß Holtrop an seinem Schreibtisch und donnerte die ersten offiziellen Mails dieses Bürotags in die Welt hinaus.“ Bleibt die Frage, ob der Roman „im Kampf“ brauchbar ist. In welchem Kampf genau? Man spürt ja bei Goetz schon auch, dass er in seinem Schreiben mit den eigenen Dämonen kämpft. Und er ist eben darum ein so überragender Schriftsteller, weil aus diesem Kampf zuweilen eine irre Komik entspringt.
Johann Holtrop. Abriss der Gesellschaft Rainald Goetz Suhrkamp 2012, 343 S., 19,95 €
Rainald Maria Goetz wurde 1954 in München geboren. Der promovierte Historiker und Mediziner debütierte 1983 mit dem Psychiatrie-Roman Irre. Im selben Jahr schnitt er sich beim Wettlesen in Klagenfurt mit einer Rasierklinge die Stirn auf. Den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann der blutüberströmte Autor nicht, dafür jede Menge Aufmerksamkeit.
Es folgten unter anderem die RAF-Geschichte Kontrolliert (1988), die Drogen- und Cluberzählung Rave (1998) sowie das Internettagebuch Abfall für alle, das mit dem Untertitel Roman eines Jahres (1999) auch in Buchform erschien.
Es gibt kaum ein Format, in dem Goetz nicht veröffentlicht hätte, zuletzt einen Bildband, elfter september 2010. Im Sommersemester 2012 unterhielt er die Heiner-Müller-Gastprofessur an der FU Berlin. Sein Schreibseminar endete im Streit, da er Noten verweigerte. Goetz lebt in Berlin
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