„Wie bittet man einen Mann darum, der Letzte zu sein, der für einen Fehler stirbt?“, diese Frage stellte der Vietnam-Veteran und heutige US-Außenminister John Kerry 1971 in seiner Brandrede gegen den Vietnam-Krieg. Für Private John Bartle liegt 2004 das Ende eines Kriegs im Irak jenseits seiner Vorstellungskraft. „In jenem Sommer“, schreibt er, „erschien mir der Krieg wiederholt im Traum und offenbarte mir seinen einzigen Daseinszweck: weiterzutoben, nie zu enden.“ Und so verfallen Bartle und seine Mitsoldaten auf eine Art magisches Denken. Sie bilden sich ein, dass bereits vor ihrer Abreise entschieden war, wer diesen Krieg nicht überleben wird. Dass die Liste mit den Namen der Gefallenen längst geschrieben ist. Zugleich sind si
sie wie besessen von der Zahl 1.000: Jeder fürchtet, er könne Nummer 1.000 sein, der tausendste gefallene Soldat. Als wäre die Liste dann voll.In der Realität sind 4.474 Soldaten zwischen 2003 und 2011 im Irak gestorben, die meisten kamen ums Leben nachdem der damalige Präsident George W. Bush den Krieg am 1. Mai 2003 offiziell für beendet erklärt hatte. Von dieser Nachspielzeit, wenn man so sagen will, handelt Kevin Powers’ Roman Die Sonne war der ganze Himmel. Es ist der fiktive Bericht eines Soldaten namens John Bartle, der in elf Kapiteln abwechselnd von seinem Einsatz in Al Tafar in Irak und der Zeit vor und nach diesem Einsatz in den USA erzählt.Kein FrontberichtKevin Powers’ Roman ist kein klassischer Frontbericht. Es gibt keine Front, an der die Männer, von denen dieses Buch erzählt, kämpfen könnten. Es gibt eine Obstwiese, und die Stadt dahinter ist mal Freundes- und mal Feindesland, je nach Jahreszeit, bei relativ identischem Personal. „Wenn wir durch die Straßen patrouillierten“, schreibt Bartle, „warfen wir ihren Kindern, die uns auch bald bekämpfen würden, Süßigkeiten zu.“ Ihm ist bewusst, dass dieser Krieg anders ist, als der Krieg seines Großvaters, „der Sinn und Zweck hatte“.Die Natur dieses „miesen, kleinen Krieges“ der Enkelgeneration schildert Kevin Powers in scharf gezeichneten Tableaus. Bartles Bericht beginnt im September 2004 auf dem Dach einer Stellung vor Al Tafar. Das Schießen und Beschossenwerden dauert seit 4 Tagen an, die Männer halten sich mit Amphetaminen und mit Tabasco-Soße in den Augen wach. So weit, so Stallone-kompatibel. Doch Powers verweigert sich einem actionfilmtauglichen Erzählmodus. Zwischen den ersten Leuchtspurgeschossen und dem Befehl, das Feuer einzustellen, liegen nur zwei Sätze: „Wir hörten, wie uns (die Kugeln) um die Ohren flogen, in Lehmziegel und Beton einschlugen. Wir sahen nicht, wie Malik getroffen wurde, aber unsere Uniformen waren von seinem Blut befleckt“. Es folgen vier Seiten, auf denen Bartle die eigene Abgebrühtheit reflektiert. Und auch der Vormarsch durch die Obstwiese – das „jährliche Großereignis“, wie ein Soldat zynisch bemerkt – ist alles andere als ein Walkürenritt à la Apocalypse Now. Wollte man Die Sonne war der ganze Himmel verfilmen, wäre man gut beraten, sich nicht Francis Ford Coppola oder Sam Mendes’ Jarhead zum Vorbild zu nehmen, sondern Lech Majewski, der 2011 aus Pieter Bruegels Gemälde „Die Kreuztragung Christi“ den Film Die Mühle und das Kreuz gemacht hat. Majewski schaut auf Bruegels Wimmelbild und lässt die – zum Teil sehr grausamen – abgebildeten Szenen lebendig werden.Auch Powers’ Irak-Kapitel haben etwas von einem Tafelbild, aus dem sich Ausschnitte herauslösen und in 3-D zum Leben erwachen. Ein Auto mit wehenden weißen Tüchern zum Beispiel, in dem ein altes irakisches Ehepaar sitzt. Das Auto wird von den Kugeln der Soldaten durchsiebt, die Frau kriecht heraus, bleibt reglos liegen. Auf der Obstwiese löst sich ein anderes Bild aus der Landschaft: Sanitäter knien um einen tödlich getroffenen Soldaten, versuchen seine Eingeweide zurück in den Bauch zu drücken. Bartle und die anderen bilden einen Kreis um die Szene: „Rotz troff von seiner Oberlippe, und er zitterte so heftig, dass Speichelflocken auf sein Kinn flogen. Dann war er eine Weile still, und ich begriff, dass er tot war. Niemand sprach ein Wort.“Damit wir uns nicht missverstehen: Powers ästhetisiert das Grauen nicht. Eine Körperbombe ist eine Körperbombe, ein gefolterter Soldat ein gefolterter Soldat. Auch ohne viel Geschrei und den Gestank von Schweiß und Blut.Kevin Powers war selbst als Soldat im Irak. Wie sein Protagonist John Bartle stammt er aus Richmond, Virginia, und wie er war 2004 in Al Tafar stationiert. Danach trennen sich ihre Wege: Zurück in den USA, studiert Powers Literaturwissenschaften und kreatives Schreiben und hat als Schriftsteller Erfolg. John Bartle hingegen entgleitet sein Leben. „Ich war am Verschwinden“, berichtet er im fünften Kapitel. „Dann wäre ich ein Fall für die Fernsehnachrichten. Ich sah es schon vor mir: ‚Heute beklagen wir einen weiteren Verlust‘, würde es heißen, ‚wieder hat sich jemand nach der Heimkehr in Luft aufgelöst.‘“ Er nimmt keine Anrufe entgegen, geht alten Freunden aus dem Weg und zieht sich schließlich in ein altes Gaswerk zurück, bis ihn dort ein Beamter des Criminal Investigation Commands aufspürt. Anders als Kevin Powers, der ehrenvoll aus der Armee entlassen worden ist, wird John Bartle wenige Monate nach seiner Rückkehr für drei Jahre in Fort Knox inhaftiert.Was-wäre-gewesen-wennSo ist Die Sonne war der ganze Himmel wohl auch als Was-wäre-gewesen-wenn-Geschichte eines Davongekommenen zu lesen. Wie schmal der Grat zwischen Diensterfüllung nach Vorschrift und freiem Fall ist, beschreibt Powers sehr präzise. Bartles Mitsoldat Daniel Murphy verliert noch im Irak die Nerven, irrt nackt durch Al Tafar, und was ihm dort angetan wird, ist so entsetzlich, dass er am Ende nicht einmal in einer Metallkiste in die USA zurückkehren kann. In einem anderen Roman über einen anderen Krieg wären Murphy und Bartle Kameraden genannt worden. Dieses Wort kennt Powers’ Erzählung nicht. „Man hatte mich darauf gedrillt, den Krieg als großen Vereiner zu sehen“, konstatiert Bartle nüchtern. „Vollkommener Unsinn, denn der Krieg bringt unzählige Solipsisten hervor“.Auch was das betrifft, ist Powers ein Davongekommener: Sein Roman zeugt von großem Einfühlungsvermögen. Vor allem aber ist er eine brillante Fehleranalyse.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.