Kurze Texte, große Gefühle

Eventkritik Auf der Blogger-Messe re:publica wurden Twitter-Beiträge in einer Liveperformance vorgetragen. Ein Märchen kam dabei nicht heraus - aber eine Spontisprüche-Sammlung

Der Abend beginnt mit Pappkarten. "What are you doing" – was machst du gerade? Die alles entscheidende Twitter-Frage wird auf ihnen her­umgereicht. Unter der Frage sind 140 ­schmale Kästchen für 140 Zeichen, eben so viele, wie man auch beim Twittern im Netz für eine Kurznachricht, die dort Tweet heißt, hat. Was wie Lernmaterial für eine Unterrichtsstunde übers Twittern aussieht, ist ein Mitmach-Tool. Offline-Tweet heißt es, am Ende des Abends werden die Karten eingesammelt und für den besten handschriftlichen Text wird es einen Pokal voll Wodka geben.

Auf der Blogger-Messe re:publicain Berlin hat das neue Medium Twitter es auf die Bühne geschafft. Was passiert, wenn man das Gezwitscher aus dem Netz als Liveperformance vorträgt? Kann aus den vielen Textfetzen ein Märchen entstehen? Oder ein Trauerspiel?
Im großen Saal der Kalkscheune, wo sich Netz-Enthusiasten und Twitter-Fans treffen, ist das Publikum überwiegend männlich – kaum einer unter zwanzig, die über Fünfzigjährigen lassen sich dagegen an einer Hand abzählen. Turnschuhe und Kapuzenpullis sind die bevorzugte Kleidung. Am rechten Bühnenrand steht ein Monitor, auf den aus dem Publikum und von außerhalb live gewittert werden kann. Auf dem linken Bühnen-Monitor werden Tweets gezeigt, die Teil der Performance sind.

Es lesen die üblichen Verdächtigen: Sascha Lobo, unübersehbar mit seinem roten Irokesen. Blogger mit Namen wie Bosch oder mspro, über den später ein Tweet vorgelesen wird, in dem steht, man würde ihn immer mit dem anderen Typen verwechseln, der so versoffen aussähe. Damit ist dann vermutlich Björn Grau gemeint, ein Turnschuh-T-Shirt-Typ mit schwarzem Hut.

Er liest später Tweets zum Thema „Berlin gegen den Rest der Welt“ und outet sich dabei als Exil-Schwabe in der Hauptstadt. Die Bloggerinnen Tina Pickhardt und Martha Dear bemühen sich um die internationalen Gäste, indem sie englische Tweets vorlesen.

Das Publikum kennt die Twitter-Sucht

Los geht es aber mit medialer Selbstreflexion: „Wie können wir Twitter verbessern“, gelesen von Bosch und mspro. Wobei es vor allem um das Thema Twitter-Abhängigkeit geht. „Bin in der Klinik und auf Internetsuche+Entzug. Darf eigentlich nicht twittern. Mach es trotzdem und hab das Handy im Blumenbeet vergraben. Hihi.“ Weniger parodistisch schreibt eine andere Twitter-Userin: „Da steigt man verheult in die S-Bahn, liest euren Schwachsinn und muss schon wieder lachen“.

Das Publikum scheint die Twitter-Sucht zu kennen, beide Texte werden mit lauten „Ooohs“ aufgenommen. Überhaupt kommt Gefühligkeit bei dem eigentlich technikaffinen Turnschuh-Publikum erstaunlich gut an. Klarer Favorit der ersten Lese-Runde ist der Tweet: „Man muss diese versteckten Sterne in der Timeline anklicken und sammeln. Weil dann kleine süße Robbenbabys geboren werden.“

Beliebt sind auch alle Kurz-Texte, die sich an den erklärten Feind, den „Unfollower“ richten, also jenen, der sich kaltherzig nicht mehr für die Texte der anderen Twitterer interessiert, der also einem virtuellen Freund die Gefolgschaft aufkündigt. „Unfollowen, das Erschießungskommando des kleinen Mannes“ bemerkt ein Twitterer. „Unfollower, du mich auch“ textete ein anderer und beschimpft damit in der Twitter-Sprache den Anderen. Bosch und mspro lesen diese Kurzprosa vor und versuchen, Übergänge zu schaffen, verlinken hieße das im Netz.

So wie auf der Bühne bekannte Namen der Online-Szene sitzen, so sind es auch die immer gleichen Namen, die unter den Tweets stehen, die vorgelesen werden: blogwart, tristesse deluxe ­– und die unvermeidliche Kathrin Passig, die selbst das Offline-Publikum kennt, seitdem sie 2006 als Bloggerin den Bachmann-Preis gewann. Dafür, dass Twitter ein Netzwerk mit rund 30.000 Usern in Deutschland ist, wirkt die Szene sehr überschaubar.

Als „Stargast“ groß angekündigt, kommt dann auch noch Stefan Niggemeier auf die Bühne. Seines Zeichens Medienjournalist, Bildzeitungs-Kritiker und Deutschlands bekanntester Blogger.

Niggemeier liest die Texte eines anderen Twitterers vor, er selbst bekennt, an „Twitterphobie“ zu leiden. Empörung auf dem rechten Monitor: „Niggemeier twittert nicht?“ So wurden früher Mitschüler angesprochen, die sich heimlich mit denen aus der Parallelklasse trafen. Ein anderer twittert trotzdem verzückt: „Ist das süß, wie Stefan Niggemeier beim Lesen rot wird“.

Ein Blick in die digitale Kloake

Dann wendet man sich auf dem Podium der digitalen Kloake zu, als müsse man jetzt noch klären, dass man hier nicht beim „Literarischen Quartett“ zu Gast ist. Nach einigen Kotz-Furz-Wichs-Tweets wird es in dieser Kategorie dann aber auch noch ganz amüsant. Ein vorgelesener Text plaudert aus, dass ein „A-Blogger“, einer der Großen der Szene also, sich auf der Toilette die Hände nicht gewaschen hat. Der Gag bekommt eine zweite Pointe bei der Verleihung des Wodkapokals am Ende des Abends. Besagter A-Blogger gewinnt den Pokal mit einer Karte, auf der steht: „Ich habe mir vorhin die Hände gewaschen. Echt jetzt.“

Nur das Publikum saß während der zweistündigen Lesung ohne Pause ziemlich auf dem Trockenen. Über den rechten Monitor twitterten diverse Bierbestellungen. „Hilfe, ich werde nüchtern“ schreibt einer gegen 23 Uhr. „Twitterlesung: Die Spontisprüchesammlung des neuen Jahrtausends“, fasst einer den Abend im Tweet zusammen.

Am Ende gab es in der Kalkscheune kein Märchen, kein Trauerspiel. Nur eine Community feierte sich, ihre Helden und ihr Medium.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Christine Käppeler

Ressortleiterin Kultur

Christine Käppeler

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