Expertin über Restitutionsgesetz für NS-Raubkunst: „Es fehlt allen an Orientierung“
Im Gespräch In Deutschland gibt es bis heute kein Restitutionsgesetz, die Beratende Kommission NS-Raubkunst sieht die Politik jetzt in der Pflicht. Provenienzforscherin Lynn Rother beobachtet die aktuelle Diskussion kritisch
Ein Streitpunkt: Ist die Provenienzforschung an den Museen unabhängig?
Foto: Bayerische Staatsgemäldesammlungen
Um die 600.000 Werke wurden während der NS-Zeit ihren Eigentümer*innen geraubt, sie wurden beschlagnahmt oder bei Zwangsverkäufen unter Wert erstanden. Ein Gesetz, das ihre Rückgabe regelt, gibt es in Deutschland bis heute nicht. Die Beratende Kommission NS-Raubkunst, die vor 20 Jahren eingesetzt wurde, um in Streitfällen Empfehlungen auszusprechen, kritisierte dies im Zuge ihres Jubiläums soeben scharf.
Lynn Rother, Professorin für Provenienzforschung an der Leuphana Universität Lüneburg, sieht ebenfalls Handlungsbedarf – aber an anderen Stellen als die Kommission.
der Freitag: Frau Rother, wie bewerten Sie die Forderungen nach einem Restitutionsgesetz?
Lynn Rother: Es ist bemerkenswert, dass die Beratende Kommission im Mittelpunkt der Disku
rau Rother, wie bewerten Sie die Forderungen nach einem Restitutionsgesetz?Lynn Rother: Es ist bemerkenswert, dass die Beratende Kommission im Mittelpunkt der Diskussion steht. Ihre Tätigkeit ist nicht repräsentativ für das Restitutionsgeschehen in Deutschland. Seit 1998 sind 18.000 Restitutionsverfahren gelaufen und 32.500 Objekte zurückgegeben worden, davon 7.500 von Museen. Die Beratende Kommission ist immer nur für besonders strittige und komplexe Fälle angedacht gewesen, in denen zum Beispiel die Aktenlage keine eindeutigen Schlüsse zulässt oder in denen die Beteiligten zu einer unterschiedlichen Bewertung der Faktenlage kommen. In den 20 Jahren ihres Bestehens waren das 23 Fälle.Ein Kritikpunkt der Kommission ist ja, die Zahl sei so gering, weil sie nur angerufen werden kann, wenn beide Konfliktparteien zustimmen. Ist nicht von viel mehr strittigen Fällen auszugehen?Das ist Spekulation. Ob es wirklich so viele weitere strittige Fälle geben würde, wird sich zeigen. Die Bundesbeauftragte für Kultur und Medien Claudia Roth hat letzten Donnerstag ja bekannt gegeben, die einseitige Anrufung zu ermöglichen. Im Moment dreht sich alles um einen Fall: das Gemälde Madame Soler.Das Picasso-Gemälde in den Bayerischen Staatsgemäldesammlungen, um dessen Restitution die Nachfahren des Bankiers Paul von Mendelssohn-Bartholdy seit 14 Jahren streiten. Bayern weigert sich, den Fall der Beratenden Kommission vorzulegen.Ja, dieser Fall hat die Diskussion um ein Restitutionsgesetz erneut angeheizt. Aber wenn man mehr Restitutionen und mehr gerechte Lösungen will, dann hängt das nicht davon ab, ob man die Kommission stärkt, sondern wie man systematische und vor allem effizientere Forschung ermöglicht. Weil die bisher nicht identifizierten Objekte vor allem in den Beständen liegen, die sehr viel schlechter dokumentiert sind als Gemälde, also etwa Druckgrafiken, Zeichnungen, Musikinstrumente, Noten, Möbelstücke oder Porzellane.Das sind dann die Fälle, die in der Datenbank Lost Art auftauchen? Sie führt aktuell rund 39.000 Objekte als „gesucht“, 549 als „restituiert“.Genau. Da steht zum Beispiel, dass eine Zeichnung von Käthe Kollwitz mit unbekanntem Titel von der Gestapo beschlagnahmt wurde und heute von den Nachfahren gesucht wird. Welche Zeichnung ist das? Da müssen Museen nicht nur Provenienzforschung leisten, sondern die Informationen zu ihren Objekten vor allem auch online stellen und zugänglich machen, damit das Wissen beider Seiten zusammenkommen kann und in einem Ausschlussverfahren die Werke identifiziert werden können, die unrechtmäßig entzogen wurden. Genauso wichtig ist die Forschung auf Seiten der Nachfahren sowie auch universitäre Grundlagenforschung. Mehr Forschung bedeutet mehr Restitutionen.Placeholder authorbio-1Die Beratende Kommission fordert ein unabhängiges Forschungsinstitut.In ihrem Memorandum steht, dass die Provenienzforschung in den Museen nicht unabhängig sei. Dem kann ich so nicht zustimmen. Museen verpflichten sich genauso wie Universitäten wissenschaftlichen Standards, die überprüfbar sind. Die Grenzen zwischen Forschung, Bewertung und Entscheidung könnten aber schärfer getrennt werden, wie es beispielsweise in österreichischen Bundesmuseen gehandhabt wird.Ich denke, eben darum geht es der Kommission. Um bei „Madame Soler“ zu bleiben: Die Pinakotheken fassen auf ihrer Website ihre Forschungsergebnisse zusammen, die ergeben, dass kein verfolgungsbedingter Entzug vorliege. Die Gutachten der Nachfahren kommen zu einem anderen Schluss.Bei der Kommission reichen beide Seiten nicht nur ihre Schriftsätze, sondern auch das Quellenmaterial ein. Dann kann die Kommission die Materialien würdigen, die recherchierten Fakten und Interpretationsspielräume abwägen und auch beiden Seiten weitere Fragen zur Klärung stellen. Dass die Pinakotheken mit dem Fall nicht zur Kommission gehen wollen, deutet darauf hin, dass die Kommission ein Vertrauensproblem hat. Denn die Bayerischen Staatsgemäldesammlungen haben ja in anderen Fällen proaktiv recherchiert und restituiert.„Das Mandat der Beratenden Kommission war nie, allgemeine 'Wiedergutmachtung‘ zu leisten“Gab es denn Fälle, in denen die Beratende Kommission falsch geurteilt hat?In meiner Position würde ich mir nicht anmaßen, von falsch oder richtig zu sprechen. Aber das Mandat der Kommission war nie, allgemeine „Wiedergutmachung“ zu leisten. Sondern in besonders strittigen Fällen einen konkreten Sachverhalt zu beurteilen. Dafür wurde vom Bund, den Ländern und Kommunen eine Handreichung erarbeitet. Eine Voraussetzung, um Restitutionsfälle zu begründen, ist der Eigentumsnachweis. Ein Beispiel ist Das Zitronenscheibchen, wo klar war, dass dieses Gemälde den Vorfahren nie gehört hat. Die Entscheidung für die Restitution wurde aus moralischen Gründen getroffen. Ein anderes Beispiel ist das Gemälde Die Füchse. Hier hat der zwangsemigrierte Eigentümer Kurt Grawi das Gemälde im Ausland verkauft und frei über den Kaufpreis verfügen können. Nach Auffassung vieler Beteiligter hat die Beratende Kommission mit solchen moralischen Entscheidungen ihren Mandatsbereich verlassen, was zum Vertrauensverlust beiträgt.Sie plädieren für eine emanzipierte Provenienzforschung. Was bedeutet das?Provenienzforschung muss wissenschaftlichen Kriterien folgen, passiert das nicht, muss es Konsequenzen haben. Emanzipation bedeutet aber auch, sich von politischen Interessen frei zu machen.Kann man in Deutschland die politische Komponente außen vorlassen?In der Forschung ja, in den Entscheidungen nein.Was ist aus Ihrer Sicht durch die Washingtoner Erklärung unzureichend geregelt?Placeholder infobox-1In den Washingtoner Prinzipien heißt es zum Beispiel, dass beschlagnahmte Werke, die nicht restituiert wurden, zu fairen und gerechten Lösungen geführt werden sollen. Inzwischen ist es in Deutschland Konsens, dass auch Zwangsverkäufe oder andere unfreiwillige Vermögensverluste eine Restitution begründen können. Aber welche Kriterien begründen einen Zwangsverkauf? Es fehlt den Beteiligten an Orientierung, welche Kriterien einen NS-verfolgungsbedingten Entzug begründen oder zumindest sehr wahrscheinlich machen. Das muss jetzt unter Wahrung aller Interessen und unter Einbeziehung von Expert*innen neu verhandelt werden und ist sehr komplex. Sollten zum Beispiel ein von der Gestapo beschlagnahmtes Werk und ein im Ausland verkauftes Werk gleichermaßen restituiert werden, um von einer fairen und gerechten Lösung zu sprechen?Es gibt die Position, alles, was nach 1933 aus jüdischem Besitz verkauft wurde, als NS-Raubgut zu bewerten.Diese Position spiegelt sich vor allem in den Medien. Und es gibt damit mehrere Probleme. Wenn ein jüdischer Kunsthändler zum Beispiel ein Werk 1935 kauft und es vier Wochen besitzt, bevor er es an einen jüdischen Sammler weiterverkauft, bei dem es später beschlagnahmt wird, wäre es derzeit noch so, dass es an den Händler restituiert werden müsste, weil er der Erstgeschädigte ist. Solche Fälle werden gerade diskutiert. Und hier stellt sich auch die Frage, welche Kriterien einen Zwangsverkauf konstituieren. Da sind die Washingtoner Prinzipien zu vage und das muss neu ausgehandelt werden. Welche Entziehungen verlangen faire und gerechte Lösungen und muss das immer in einer Naturalrestitution münden?„Restitution sollte auch bedeuten, dass diejenigen, die Werke zurückerhalten, damit machen können, was sie wollen“Naturalrestitution bedeutet …Die Rückgabe des Objektes mit allen Rechten. Es kommen aber auch Entschädigungszahlungen infrage. Oder ein Verkauf des Werkes und der Verkaufswert wird zwischen den Parteien aufgeteilt. Es gibt weitaus kreativere Lösungen, die bisher in Deutschland wenig ausgeschöpft wurden. Restitution sollte auch bedeuten, dass diejenigen, die Werke zurückerhalten, damit machen können, was sie wollen – ohne Verurteilung oder gar Ausfuhrverbote.Sie haben länger am MoMA gearbeitet. Was läuft dort anders?Es gibt in den USA den Gerichtsweg, den aber manchmal die Museen, manchmal auch die Antragstellenden nicht einschlagen, weil er mit hohen Kosten verbunden ist. Aber dann werden oft einvernehmliche Lösungen gefunden, die im Zweifel nicht einmal öffentlich kommuniziert werden. Provenienzforscher*innen können die Geschichten von Kunstwerken übrigens auch mit einer Restitution erzählen. Die Objekte haben nicht nur materiellen Wert, sondern sind auch Bedeutungsträger und können eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlagen und das jüdische Leben in Deutschland erzählen. Wenn ein Objekt restituiert wird, kann man das danach sogar mit einem leeren Rahmen erzählen.Das Kunstmuseum Basel setzte sich kürzlich in der Ausstellung „Der Sammler Curt Glaser“ kritisch mit seiner eigenen Rolle als Ankäufer auf einer Auktion des vom NS-Regime verfolgten und zwangspensionierten Museumsdirektors auseinander.Ausstellungen wie diese habe ich kürzlich in einer Rezension als „institutionalisierte Institutionskritik“ bezeichnet. Viele Museen haben erkannt, was für Chancen in der Aufarbeitung ihrer eigenen Rolle, aber vor allem auch in proaktiver Provenienzforschung liegen. Am Museum Lüneburg hat die Forscherin Anneke de Rudder im Bestand Objekte gefunden, unter anderem Judaika. Es stellte sich heraus, dass sie aus dem Besitz der Bankiersfamilie Heinemann stammten, die auch den Bau der Synagoge in Lüneburg unterstützt hatte. Die Forscherin hat eine Erbin in den USA ausfindig gemacht und mit ihr weitere Nachfahren gesucht. So kamen mehr als 40 Familienmitglieder, die auf allen Kontinenten verstreut lebten und nicht voneinander wussten, in Lüneburg zusammen. Das Eigentum wurde übertragen, aber die Objekte sind im Museum als Dauerleihgabe und erzählen diese Geschichte. Meines Erachtens wird in der Diskussion gerade unterschlagen, dass es diese proaktive Forschung gibt, dass es diese Lösungen gibt.
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