Unsaniert. Unsanierbar. Hier ist von Booms und Pleiten nichts zu spüren. Hier ist die Pleite Dauerzustand“, diese Worte schießen Leah Hanwell durch den Kopf, als an ihrem U-Bahn-Fenster die Skyline von Kilburn vorbeizieht. In Kilburn im Nordwesten von London ist die Autorin Zadie Smith geboren. An diesem maroden Stadtteil zu kleben, dazu sind Leah Hanwell und die anderen Figuren verdammt. Smiths erster Roman Zähne zeigen erzählte von drei Familien unterschiedlicher Herkunft im angrenzenden Willesden. Howard Belsey, der Kunsthistoriker in ihrem zweiten Roman Über die Schönheit, stammte aus dem benachbarten Cricklewood. Und nun, da Zadie Smith selbst längst einen Großteil des Jahres in New York verbringt, um an der NYU zu lehren, nun hat sie diesen Kilburn-Roman geschrieben: London N-W. Gemäß der alten Makler-Weisheit „Lage, Lage, Lage“ ist die Frage, wie einer leben will, in diesem Roman schicksalshaft mit der Frage nach dem Wo verknüpft.
Verschiedene Lebenswege
Der Fixpunkt der Kilburner Skyline sind im Roman die Türme der fiktiven Caldwell Houses: „Fünf Häuser, verbunden durch Übergänge und Brücken und Treppenhäuser und Aufzüge, die man schon kurz nach dem Bau nicht mehr gefahrlos benutzen konnte“. Eine Sozialsiedlung, wie es sie in jeder europäischen Großstadt in den weniger wohlhabenden Bezirken gibt. Vom Optimismus, mit dem sie einst errichtet wurde, sind nur noch die Namen der fünf Häuser geblieben: Smith, Hobbes, Bentham, Russell und Locke.
Leah, Natalie, Felix und Nathan, die vier Mittdreißiger, von denen London N-W erzählt, sind in diesen Caldwell Houses geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern, Einwanderer aus Irland, Jamaika und Nigeria, leben zum Teil noch dort. Ihre Wege sind sehr unterschiedlich verlaufen, sie haben Karriere gemacht oder mussten erkennen, dass man auch weit unten noch tiefer sinken kann: Natalie Blake, die Tochter eines Klempners, hat sich hochgearbeitet. Sie hat Jura studiert, ihren alten Vornamen Keisha abgelegt, einen von Haus aus vermögenden Banker geheiratet und schließlich zwei Kinder bekommen, denn „sie hatte nicht vor, sich zu blamieren, indem sie nicht tat, was von ihr erwartet wurde“.
Ihre beste Freundin Leah Hanwell hat die entscheidenden Jahre mit Jungs und Dope verdaddelt und danach Philosophie studiert, weil sie „Angst vor dem Tod hatte und dachte, das könnte helfen“. Nun hängt sie als Bürokraft in der kommunalen Verwaltung fest. Ihr Gatte, ein Friseur, hegt weit ambitioniertere Karriere- und Familienpläne als Leah. Er spekuliert deshalb auf Aktienkurse im Internet. Sie nimmt deshalb heimlich die Pille.
Die beiden Männer bleiben blasser: Felix Cooper ist der nette Junge von nebenan, der sich durchjobbt und vom Hipster bis zur prekarisierten Upperclass-Tante mit jedem kann. Seit neun Monaten, zwei Wochen und drei Tagen ist er clean, weil ernsthaft verliebt. Auf Seite 120 erfahren wir, dass er sterben muss, nicht zuletzt wegen seiner Nettigkeit. Aus Nathan Bogle schließlich, dem Schönling der Schule, ist ein Junkie, Amateur-Zuhälter und mutmaßlicher Mörder geworden.
In Hausschuhen zurück
Was diese Figuren eint, ist, dass sie alle vom Londoner Nordwesten nicht loskommen. Leah kann die alten Türme von ihrem Garten aus sehen, wenn Felix aus dem Haus seiner Freundin tritt, sind sie keine 500 Meter entfernt, Nathan haust in einer besetzten Bruchbude in Spuckweite, und selbst Natalie, deren Aufstieg zur Kronanwältin von wachsenden Quadratmeterzahlen und -preisen flankiert wird, schafft es gerade einmal bis zum Queen’s Park, der Top-Lage im Viertel mit viktorianischer Bausubstanz.
Als es am Ende des Romans für Natalie Blake richtig dicke kommt, kann sie den Weg zurück zu den Caldwell Houses zu Fuß gehen. Sie geht ihn in Hausschuhen, Leggins und einem weiten T-Shirt – was eine junge Karrierefrau im 21. Jahrhundert in ihrer Freizeit vor dem Kamin eben so trägt – und als sie kurz vor den Caldwell Houses auf eine Absperrung stößt, hält der Polizist, der dort Wache schiebt, sie in dieser Montur in dieser Umgebung ganz selbstverständlich für einen Junkie. Diese kleine Szene subsummiert die gnadenlose Botschaft von London N-W: Oben und Unten sind austauschbar, jeder Ausbruch ist Illusion.
In Zadie Smiths letztem großen Roman Über die Schönheit war das noch anders. Howard Belsey, Literaturprofessor an der fiktiven Wellington University bei Boston, hatte den alten Kontinent hinter sich gelassen, seine proletarische Herkunft als Metzgers-Sohn aus dem Londoner Nordwesten taugte ihm allenfalls noch auf Marxismus-Kongressen zur popularitätssteigernden Anekdote. Auch Belsey droht am Ende tief zu fallen, aber seine Hölle ist die Aussicht auf akademische Irrelevanz und ein abgesichertes Pensionärs-Dasein in der friedlichen, wohlhabenden, hübschen Spielzeug-Stadt, als welche dieses Wellington beschrieben wird.
„Wenn wir genug Geld hinblättern, wenn wir die Augen zukneifen, dann braucht es Kilburn gar nicht zu geben“, heißt es einmal in London N-W. Natürlich geht der alte Kindertrick auch hier nicht auf. Wie klein die Distanz zwischen den Läden mit den geklauten Handys und den Villen mit den Steinlöwen vorm Portal im Nordwesten von London ist, wird im vorhergehenden Kapitel, das wie eine Google-Suchanfrage aufgebaut ist, nüchtern vermessen: 3,86 Kilometer, 47 Min. Fußweg.
Zadie Smith hat einen London-Roman geschrieben, der von der Holzvertäfelung im Pub bis zur Gemeinde in der Kirche ungeheuer London-typisch ist. Davon abgesehen ist ihr eine sehr gegenwärtige, allgemeingültige urbane Erzählung gelungen, die von den Stufen der Gesellschaft zwischen Kilometer Null und Kilometer 3,86 erzählt. Und von der Möglichkeit, jederzeit auf den Nullpunkt zurückzufallen. So kühn wie Zadie Smith kann man das womöglich nur aus sicherer Distanz.
London N-W Zadie Smith aus dem Englischen von Tanja Handels Kiepenheuer & Witsch 2014, 432 S., 22,99 €
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