Vom HipHop lernen

Reglerschieber Auf dem Rechner kann sich heute jeder seine eigenen Songs basteln. Wozu braucht es da noch Produzenten? Die Band Slut hat für ihr neues Album gleich fünf verpflichtet
Ausgabe 35/2013
Vom HipHop lernen

Foto: slobo/IStock Photo

Vom HipHop lernen heißt siegen lernen – mit diesen Worten hat die Hamburger Band Kettcar einmal erklärt, warum sie ein Album mit drei Produzenten aufgenommen hat. Wenn eine deutsche Gitarrenband HipHop sagt, meint sie in der Regel den US-HipHop. Dort ist es seit Langem üblich, dass sich ein Künstler wie Jay-Z seine Tracks von Star-Produzenten mit unterschiedlicher Handschrift zusammenschrauben lässt. Millionen Amerikaner konnten das im Juni in Augenschein nehmen, als der Rapper in der Pause des NBA-Finales für sein neues Album warb. In dem Video ist er mit vier Produzenten im Studio zu sehen, darunter der Vollbartträger Rick Rubin, der schon die Beastie Boys, Slayer und das Alterswerk von Johnny Cash aufgenommen hat. Dass ein Vermarktungsgenie wie Jay-Z so wirbt, sagt auch etwas über die (Marken-)Macht von Musikproduzenten aus.

In Deutschland war das Album von Kettcar bisher die Ausnahme. Nun hat eine andere Gitarrenband, Slut, ein Album mit sogar fünf verschiedenen Produzenten gemacht. Die Aufnahmen entstanden in München, Weilheim, Bochum, Hamburg und Berlin, unter der Vorgabe, dass kein Produzent die Lieder der anderen kennt. Von außen betrachtet ist das Experiment auch deshalb interessant, weil diese fünf Produzenten viele wichtige deutsche Platten der vergangenen zwanzig Jahre produziert haben: das weiße Album von Tocotronic, Zweilicht und Zombie von Kante, die Platten von The Notwist, Genial-Durchgedrehtes wie Hell in Hell von Surrogat, aber auch Stadionmusik für die Ärzte, die Sportfreunde Stiller und Juli. Das ist nicht die gleiche Liga wie Slayer und Johnny Cash, aber da muss man es mit Tocotronic halten, die schon 1995 sangen: „Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk“.

Fette Wahnsinnsteile

Einer dieser fünf Produzenten, Mario Thaler, hat mit seinem Uphon-Studio sogar einen Sound geprägt, der durch The Notwist international bekannt wurde: Den Weilheim-Sound, der, verkürzt gesagt, in den frühen Neunzigern elektronische Schaltkreise als ernst zu nehmendes Bandinstrument entdeckte. Als Mario Thaler 2008 das Ende des Uphon-Studios bekannt gab, war das für viele Musikliebhaber ein Schock, der am ehesten mit der Insolvenz der Frankfurter Rundschau vergleichbar ist: Auch wenn man die FR schon eine Weile nicht mehr gekauft hatte, wurde durch die Nachricht noch einmal deutlich, wie viel sie einmal bedeutet hatte. Auch die Schließung des Uphon-Studios war symptomatisch für die Krise einer ganzen Branche. Die Zeit der „fetten Wahnsinnsteile“, wie Thaler sein altes Studio nennt, war vorbei.

Wozu aber braucht es noch Produzenten, wenn eine Software wie Pro Tools die schweren 24-Spur-Bandmaschinen ersetzen kann, die früher in jedem Tonstudio standen? Wenn man mit Auto-Tune die Stimme und mit Apple Logic den Takt am Computer korrigieren kann? Wenn es alte Synthesizer und Kompressoren längst auch als Zusatzmodule – sogenannte Plug-ins – für den Rechner gibt? Lapidar kann man sagen: Weil es dafür immer noch einen Menschen braucht, den interessiert, was ein Kompressor überhaupt ist und kann (er gleicht Schwankungen in der Lautstärke aus; am besten soll das immer noch die analoge Version des URAI 1176 können).

Will man es genauer wissen, besucht man am besten Tobias Siebert, Jahrgang 1976, der jüngste der fünf Produzenten. Er hat seit sechs Jahren am Schlesischen Tor in Kreuzberg in einem Hinterhof auf zwei Etagen sein Studio. Davor saß er mehrere Jahre in einer Garage in Pankow. Siebert, gelernter Offset-Drucker in dritter Generation, hatte zuerst selbst eine Band, bevor er Produzent wurde. Was überhaupt sehr typisch ist für diesen Beruf. Vier Jahre hat er nur mit dem Computer produziert, bis er ins „Analoge umgeswitcht ist“, wie er sagt. Abgesehen von dem Rechner, der die Bandmaschine ersetzt, arbeitet er heute mit analoger Technik, darunter ein imposantes 40-Kanal-Mischpult.

Der einzige Ostdeutsche unter den fünf Produzenten ist durch einen kuriosen Zufall an seine ersten analogen Geräte gekommen. Als Mitte der Neunziger ein Kongresszentrum in Berlin-Lichtenberg abgewickelt wurde, rief sie der dort angestellte Vater eines Bandkollegen an, als sich die Müllabfuhr ankündigte. Die Band packte die Saaltechnik in einen Bus und von dort in Sieberts Keller. Erst zwei Jahre später, im Studio von Udo-Lindenberg-Produzent Franz Plasa, habe er gesehen, was er da besaß: richtig teure Westtechnik. Mikrofone der Firma Neumann zum Beispiel. Ein gutes Studio-Mikrofon aus den Sechzigern von Neumann kostet 8.000 Euro.

Dass Vintage-Geräte heute so teuer sind, liegt daran, dass jeder sie will. Wenn man mit Produzenten über Klang spricht, kommt man schnell an einen Punkt, wo die Verständigung schwierig wird. Manches aber kapiert man sofort. Wenn Siebert etwa sagt, dass es zwar neue Geräte gibt, aber die klängen „sehr sportlich“. Oder dass so ein altes Mischpult dem Sound Weite und Tiefe gibt. Tobias Levin, in dessen Electric Avenue Studio in Hamburg unter anderem Tocotronic aufgenommen haben, zitiert lieber den Musiker Jens Rachut, der sagt, digital Verarbeitetes klänge „wie geschnittenes Plastik“. Was nicht heißt, dass Levin das pauschal verdammen möchte. Plastik, wem Plastik gebührt. „Bei den Pet Shop Boys“, sagt er, „ist geschnittene Musik super. Bei einer Rockband vielleicht nicht.“ Die Kehrseite der Digitalisierung formuliert er so: „Sie ermöglicht es, dass Musikmachen in höherem Maße überraschungsfrei vonstatten geht.“

Der Musik entkommen

Überraschungsfrei heißt: Wenn eine Band heute in ein Studio kommt, hat sie oft schon ein bisschen vorproduziert. Dafür reicht ein iPhone aus. Teile einer solchen Aufnahme aus dem Proberaum können es unter Umständen bis auf die Platte schaffen. Das Problem dabei ist, sagt Levin, dass sehr viel dadurch vorgegeben ist. Die Zahl der Beats per Minute zum Beispiel, die Geschwindigkeit also. Wo nun aber so viel schon festgelegt ist, bringt man die Luft schwer zum Klingen. „Es ist Aufgabe des Produzenten“, sagt er, leicht sarkastisch, „es zu unterbinden, dass die Musiker der Musik entkommen.“ Womöglich sucht auch ein Star wie Jay-Z genau das, wenn er verschiedene Produzenten anheuert: Das Risiko, von den eigenen Songs noch einmal überrascht zu werden.

Der Band Slut hat das Experiment jedenfalls gutgetan. Sie hat sich auf ihrer Deutschlandreise nicht verloren, aber Sounds gefunden, die man von ihr so nicht kennt. Eine Sitar zum Beispiel, die von Ashraf Sharif Khan gespielt wird, den Levin aus dem Kunstraum Westwerk über seinem Studio kennt. Einen Beat, der an Snoop Doggs „Drop it like it’s hot“ erinnert. Mit Oliver Zülch hat die Band, ganz wie früher, eine Woche im Studio campiert. Die beiden Songs, die dort entstanden sind, klingen vielleicht auch deshalb mehr nach Jungs-Band als die anderen. Aber hier verlassen wir den festen Boden der Regler und Mikrofontypen, der Schnitt- und Quantisierungsprogramme und nähern uns dem Reich der Journalisten-Prosa.

Bleibt die Frage, ob so etwas wie ein deutscher Rick Rubin vorstellbar ist. Klar, sagt Tobias Siebert lapidar: „Olaf Opal“. Der nun aber entspricht ganz dem Klischee des wortkargen Knöpfchendrehers. Auf Anfrage teilt er mit, er habe keine Zeit, über seine Arbeit zu reden.

Alienation von Slut ist bei Cargo Records erschienen

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