DDR in der Urne

VOLKSKAMMERWAHLEN 1990 Dokumentation

Die Wochenzeitung Sonntag, das ostdeutsche Erbgut des Freitag, beschäftigte sich in ihrer Ausgabe vom 25. März 1990 verständlicherweise auf der Titelseite mit dem Ergebnis der Volkskammerwahl. Dabei reflektierte der Aufmacher von Christoph Dieckmann schon per Überschrift, was sich vor dem Urnengang am 18. März abgezeichnet hatte und nun zur Gewissheit wurde: Der Staat DDR stand unwiderruflich zur Disposition. Möglicherweise - dank des Wahlsieges der Kohl-Schöpfung Allianz für Deutschland - nun viel schneller als gedacht. Dieser Ertrag der deutschen Herbstrevolution anno 1989 war offenbar auch für die Sonntag-Redaktion ein Schock. Sie hatte auf andere Sieger gehofft.

Der Muezzin ruft, wir knien gen Westen. "Die Menschen sind Kühe", sagte mein Großvater, "vox populi vox Rindvieh": Demokratiebegriff eines preußischen Superintendenten, der Volks-Mehrheit einfach ordinär fand. Diese ist es wirklich, eine Mehrheit der Labilen - laut gerufen, rasch gekommen. Galle des Verlierers? Heute haben viele verloren; längst nicht alle wissen es schon, aber sie werden sich umgucken. Hoffentlich allianzversichert! Mein Kreuz bekam eine Partei, die nicht siegen konnte und nicht siegen sollte, aber ich wollte über Mauern klettern, dorthin, wo nicht die Unschuld galoppiert, die Anwalt Schnur den Hals brach und den Pastor Ebeling so schamlos macht. Ich hätte gern noch eine Stimme der Barmherzigkeit gehabt, für die Trotzkisten, die das Fernseh-Volk mit einer denkwürdig kuriosen Wahlsendung beschenkten. Keiner der Kräfte am Runden Tisch sei zu trauen, weil die alle anders sind als Leos lichte Reihen. So einfach leben Sekten. Ach Kinder! Wir sind ein Volk.

Das alte DDR-Einheitsgefühl scheint fort. Wahlen ziehen Fronten: Grenzgänger sind selten, höchstens, dass mal ein Grüner in roten Socken kommt. ("Meine Grünen kann ich nicht wählen, die Muttis vom Frauenverband sind mir zu aggressiv.") Diese Stimme fehlte: knapp zwei Prozent (*). Und nur wenig mehr haben die Tapferen vom Bündnis 90 ergattert, die doch hätten gewinnen müssen, wenn es nach Gerechtigkeit ginge. Echter Protestantismus taugt eben nicht zur Mehrheit; er lebt von dem, was fehlt - wie Kunst, die Partei nehmen, nicht Partei sein kann. Ihr Amt bleibt, Mut gegen die Riesen zu machen, zu zeigen, dass Ideologien, Parteien und alle Politik relativ und ohne letzte Größe sind. Aber leicht gesagt. Wer ahnt denn, was nun blüht. Vorerst Abschied von der DDR. Die Utopie wird zu Markte getragen. Was einmal auf den Endsieg des Humanen in der Gesellschaftsgeschichte hinauswollte, das endet ganz profan als historischer Durchläufer. Doch es war unser Leben.

Wahltag, Ende der Zwischenzeit. Draußen ist herrliche Sonne. Das Volk strömt durch den Friedrichshain. Die politische Tat ist vollbracht, die Stimme ist abgegeben. Die Männer stemmen Biere, Mutter macht mit den Kleinen, und der Hund frißt Currywurst. Unten am Märchenbrunnen ein Trupp Punks. Jedes der bunten Kinder trägt eine große DDR-Fahne. Verlorenes Land, verlorene Jahre? Kannst du vergessen, dass wir auch glücklich waren?

(*) Grüne Partei und Unabhängiger Frauenverband hatten eine Wahlallianz gebildet.

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