Fernweh hatte ich immer. Die Wutanfälle, wenn mir wieder das Visum für den Verwandtenbesuch im Westen abgelehnt wurde, kann ich im Detail nachfühlen, immer noch. Die Zeiten haben sich geändert. Der Ostmensch sagt nicht mehr »Nachholebedarf« und hat nachgeholt. Und nun habe ich einen zweiten Wohnsitz in einem anderen Land.
Nach Großbritannien zu gehen ist eigentlich keine große Sache. Es ist keine unüberwindliche Entfernung von dort nach hier, man spricht die Sprache einigermaßen, man kennt die Filme mit dem Trend zum Working-class-Milieu und liest Harry Potter. Britische Baukunst kann auch in Berlin bewundert werden, was manche Engländer übrigens wundert. Die Insel also ist Europa und niemand hat dort was gegen mich. Über die
ich. Über die Ähnlichkeit von Blair und Schröder ist schon genug geredet worden. Also wo findet man überhaupt das Fremde? Im Alltag.Als ich Linda im November auf der Straße traf, fror sie und fand das Wetter zu winterlich. »Aber man denkt immerhin schon an Weihnachten«, meinte sie dann. »In diesem Jahr kaufe ich für uns einen neuen Baum.« Macht man das nicht in jedem Jahr? Ich traute mich nicht zu fragen. Ein paar Tage später, Anfang Dezember, bauten Linda und ihre Tochter im Erker den neuen Baum auf, probeweise. Montierten hier noch einen Ast und dort. Räumten das Ding schließlich noch einmal in seine Verpackung. Aber noch vor dem zweiten Adventssonntag stand die wohlgeformte Attrappe wieder im Erker.Linda ist meine Nachbarin in Englands Nordosten. Wir wohnen in einem Vorort von Newcastle, was nicht mehr weit zur schottischen Grenze ist und direkt an der Nordsee liegt. Linda umarmte mich zum Abschied herzlich, was in Berlin noch keine neue Nachbarin getan hat, und stellte fest, es sei richtig, dass ich zum Fest zu Hause sein würde, in Deutschland, bei Familie und Freunden. Christmas is Christmas. Weihnachten ist eine wichtige Sache in Großbritannien und fängt früh an. Mitte Dezember waren fast überall Weihnachtsbäume zu sehen, mit Kerzen, die schon brannten. Elektrische, natürlich; die britische Furcht vor Feuer ist enorm und ständig präsent. Wenn in meiner Küche das Olivenöl in der Pfanne raucht, heult sofort der Rauchmelder.Seit man Weihnachtsbäume verkauft, die nicht so bald nadeln, werden sie eher aufgestellt, meint Tom, der selber einen Mittelweg geht zwischen Tradition und Moderne. Den britischen Kartenkult macht seine Familie begeistert mit. Zum Geburtstag, zu Weihnachten und zum neuen Jahr schickt man ausgiebig Glückwünsche. In Geschäften werden viel mehr Karten als in Deutschland angeboten, reihenweise räumen Buchläden ihre Regale dafür frei und meist gibt's gleich zehn in einer Schachtel. Verkauft wird nach der sowieso sehr beliebten Methode: »Kauf zwei, nimm drei!« Die Karten können ruhig zwei Wochen vor Weihnachten eintreffen und werden im Wohnzimmer dekoriert, auf dem Kaminsims oder auf dem Fensterbrett, jedenfalls gut sichtbar für Besucher und Vorübergehende. Eine laxe Haltung zu solcher Art Post fällt in England unangenehm auf.Sagen würde das natürlich niemand, dazu ist man doch zu höflich. Nur von der oft behaupteten britisch-kühlen Zurückhaltung habe ich bisher nichts bemerkt. Der Ton ist herzlich, in Läden, Kneipen, im Bus. Man kommt schnell ins Gespräch und darf als Fremde nur eins nicht erwarten: Rücksichtnahme, wenn man etwas nicht verstanden hat. Fragt man nach, wird derselbe unverständliche Satz wiederholt, nur lauter. Dass ein Mensch Englisch spricht und auch mit Dialekten zurechtkommt, wird erwartet. Angemuffelt zu werden wie in der Berliner U-Bahn ist undenkbar. In England wird man eher mal mit »Love« angeredet, wenn man nach den richtigen Briefmarken fürs Festland fragt, was aus britischer Sicht allerdings Marken »für Europa« sind. Denn die Überzeugung, zu dem Kontinent auf der anderen Seite des Wassers dazuzugehören, ist nicht wirklich verinnerlicht, im Alltag nicht. Die Insel ist etwas anderes als Europa, EU hin oder her. Schon das inoffizielle Festhalten an den Maßen wie dem britischen Pfund zeigt das. Offiziell gelten Kilogramm und Gramm, viele kleine Läden stellen jedoch allenfalls eine zusätzliche Waage auf, für den einen Käufer, der wirklich so rechnen will, falls es ihn gibt.Die Insel ist für die meisten immer noch etwas irrational Großes mit grandioser Geschichte, sagt meine Freundin Louise, landeskundige und -kritische Sozialarbeiterin. Sie meint, ihre Landsleute seien zum großen Teil zu rückwärtsgewandt, sie bezögen ihr Selbstbewusstsein aus früheren Siegen, statt über die Zukunft nachzudenken. Eine Spur zu nationalbewusst sei Großbritannien deshalb. Mir ist im Alltag manchmal das Wort »bescheiden« durch den Kopf gegangen. Natürlich präsentiert das Wochenendmagazin des Independent auch die angesagten Handtaschen der Saison (und eine davon kann locker 500 Pfund kosten), sieht man riesige Anwesen und teure Autos, kann man alle Arten von Snobismus finden. Aber vor allem trifft man auf Leute, die bescheidener wirken als in Deutschland, auch bescheidener angezogen sind, ohne dabei arm zu sein. Allein in dem Vorort, in dem ich wohne, existieren 28 Wohltätigkeitsläden verschiedener Organisationen, die international oder national arbeiten, gegen den Hunger in der Welt etwas tun oder die Krebsforschung in Großbritannien unterstützen. Die Läden sehen oft verkramt und staubig aus, finden aber Kundschaft. Charity bedeutet viel in Großbritannien und ist im Alltag präsent. Manchmal nimmt die Wohltätigkeit eigenartige Formen an. Chery Blair, die Spice Girls und ähnlich gut betuchte Damen spendeten vor Weihnachten Garderobe, um armen, arbeitslosen Frauen ein perfektes Outfit fürs Vorstellungsgespräch und damit den Wiedereinstieg in einen Job zu ermöglichen.Ausgehen ist in Großbritannien ein spezielles Kapitel. Einerseits gelten strenge Regeln, wann Pubs schließen, wann der Zeitpunkt der letzten Bestellung gekommen ist, in vielen Kneipen schon um 22 Uhr. Seit den Jahren des Ersten Weltkriegs gilt diese Regel, mit der dem Saufen vorgebeugt werden sollte, um es deutlich zu sagen. Dass große Supermärkte täglich bis abends um zehn, manche gar rund um die Uhr geöffnet haben, erleichtert den Zugang zum Stoff im Ausgleich wieder. Die Kneipenregel ist ein Anachronismus, aber Traditionen, so hört man öfter, sind in Großbritannien nur sehr schwer zu verändern. Erschwerend kommt zur Regel der »last order« hinzu, dass Speisen fast überall in englischen Gasthäusern nur zu bestimmten Zeiten serviert werden. Lunch bis 14 Uhr, wenn's hoch kommt, bis 14.30 Uhr. Daran muss man sich gewöhnen. Das ist das Eine. Andererseits: Newcastle, die Stadt, die im früheren Kohlerevier Großbritanniens liegt und den Anlass für die Redewendung »Kohlen nach Newcastle tragen« gab, ist inzwischen nicht mehr dunkelgrau, sondern renoviert und eine berühmte Partystadt mit vielen Clubs (die länger öffnen dürfen) und einer schicken Ausgehmeile an der Quayside. Selbst »mein« Vorort am Meer hat eine Straße mit Pubs und Bars und steckt am Wochenende voller Amüsierwilliger. Meist ziehen Trupps von jungen Männern oder Frauen zusammen um die Häuser; die Nächte der Stags, der Hirsche, oder der Hens, was tatsächlich Hennen heißt, nennt sich das dann. Was besonders auffällt, ist die Kleiderordnung, die den abgehärteten Menschen voraussetzt. Die Lady im schulterfreien, kurzen Kleidchen, die nackten Füße in Riemchensandalen; kurz ärmlige Hemden bei den Männern. Keine Mäntel. Gesehen in der Vorweihnachtszeit und zuverlässig an jedem anderen Wochenende, auch im Regen.Gemeinsam mit der kleineren Stadt Gateshead, am gegenüberliegenden Ufer der Tyne gelegen, hat sich Newcastle als Kulturstadt Europas für 2008 beworben. Die Aussichten gelten als gut. Letzte Attraktion, die dazu beiträgt, ist die neue Brücke für Fußgänger und Radfahrer, einfallslos »Millenniums Bridge« genannt. Die Leute sagen lieber »Blinking Eye« zu dem eleganten weißen Bauwerk, das im nächsten Juni eröffnet werden soll, und treffen es damit besser. Nachdem der Schwimmkran »Hercules«, mit einem Ponton so groß wie ein Fußballfeld, die Brücke in ihre Position gebracht hatte, wobei eine Toleranz von nur drei Millimetern erlaubt war, streitet auch kein Engländer mehr über die Kosten von 22 Millionen Pfund. Eröffnet wird die Brücke erst im nächsten Jahr, aber das wird locker akzeptiert. Die Gelassenheit der Engländer habe ich ohnehin als beeindruckend erlebt. Sie haben sie in diesem Herbst allerdings auch gebraucht. Erst das Dilemma mit dem maroden Schienennetz, dann die Überschwemmungen, die, kaum zurückgegangen, im Dezember schon wieder beginnen. Hundertzwanzig Flutwarnungen sind aktuell ausgesprochen. Ich bin wieder in Berlin, für ein paar Wochen nur, und sehe mit Sorge die Nachrichtenbilder vom Wasser, das durch Straßen schwappt.Hier freue ich mich über die fehlende Polizeistunde und vermisse auch nicht die mühsame Entsorgung von Altpapier und Flaschen oder die Liste mit Schwarzfahrern, die in der kostenlos verteilten Tageszeitung veröffentlicht wird, die Schuluniformen und die drastische Überbewertung von Zensuren und Schulabschlüssen, die Neigung von Schülern und anderen Leuten, keine Fremdsprachen zu lernen. Und den Regen, der ja in einem Text über Großbritannien irgendwo vorkommen muss? Das Wetter an der Nordsee war im November oft sonnig. In Berlin ist es zur Zeit auch nass.Ich vermisse die Geduld der Leute im vol len Bus und den freundlichen Ton in der Nachbarschaft. Die chinesischen Restaurants, die ein großes Büfett anbieten statt einer Speisekarte. Ich vermisse meinen Farm shop, der nicht nur Selbstangebautes verkauft, kocht und bäckt, sondern Besucher je nach Saison auch zur Ernte einlädt. Die dicksten Brombeeren konnte man im Sommer dort pflücken. Auf dem Weihnachtsmarkt der Farm gab es die traditionellen Weihnachtsspeisen der Briten zu kosten, was herrlich war, weil sie das mit den Süßspeisen wirklich raushaben. Gegen Christmas-Cake wirkt deutsche Stolle bloß wie Knäckebrot.
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