Als ob man im Vereinigten Königreich nicht schon genug zu tun gehabt hätte, mit den Blockaden der Autofahrer und Landwirte, die das Land im September fast lahmgelegt hatten, und den Bemühungen, wenigstens einige Züge auf der Insel regulär fahren zu lassen. Seit Anfang November führen nun auch noch Regenstürme zu Überschwemmungen in vielen Regionen.
Rose Anne, Ärztin aus Newcastle im Nordosten Großbritanniens, gerade von einem Kongress in Athen zurück, stellt fest: »Die haben mich dort bemitleidet! Es sei doch zur Zeit schrecklich in Großbritannien. Ich musste erst fragen, warum eigentlich. Ach ja, die Schwierigkeiten mit dem Zugverkehr, die Benzinproteste, vor allem die Flut ... Andererseits kann man damit umgehen. Es hat soga
s hat sogar seine guten Seiten. Die Bahnausfälle haben mir zwei Meetings in London erspart. Ich konnte nicht hinfahren!« - Die unaufgeregte britische Art, auf eine Situation zu reagieren, die in den Medien Krise heißt. Auch im Chaos bleibt man gelassen. Allerdings ließ sich wie überall im Land auch in Newcastle während der vergangenen Wochen in den Nachrichten verfolgen, wie die Überschwemmungen näher rückten. Am ersten Novemberwochenende waren sie plötzlich sehr nah. Die Verkäuferin im Blumenladen von Ponteland, einem Dorf bei Newcastle, stand am Morgen bis zu den Knien im Wasser und wusste, das Geschäft würde nicht laufen, nicht an diesem Tag. Damit hatte sie nicht gerechnet, das konnte eigentlich nicht sein. Aber sie blieb ruhig, balancierte auf einem Bein, um die eben noch eleganten Pumps vorzuführen, die sie trug. An Gummistiefel hatte sie ein paar Stunden zuvor einfach noch nicht gedacht. Sie versuchte, Sträuße und Topfpflanzen, die auf dem Wasser schaukelten, auf die oberen Borde zu retten, die noch sicher schienen. Ponteland ist posh, wie man hier sagt, chic, wohlhabend, gepflegt. Und nun schwappt die Flut über die Hauptstraße. Das kennt man hier nicht. Überschwemmungen kommen im Süden Großbritanniens vor - aber doch nicht hier.Anfang November begann eine Wetterkatastrophe, die bald alle Medien im Vereinigten Königreich beherrschte. Zuerst Sturm, wie er seit 1987 nicht mehr getobt hatte, dann Regen, tagelang. Der Herbst 2000 könnte der regenreichste in Großbritannien seit Beginn der Messungen vor 273 Jahren werden. In den südlichen Regionen traten täglich Flüsse über die Ufer, an den kritischsten Tagen gab es mehr als 41 Flutwarnungen für 21 Wasserläufe. Tony Blair und sein Stellvertreter bereisten die betroffenen Gebiete und schauten besorgt. Innenminister John Prescott watete durchs Wasser und versprach, 51 Millionen Pfund für Sicherungsanlagen und Forschung noch in diesem Jahr zusätzlich bereitzustellen. Zu spät. Ein Bericht von Experten hatte die Regierung schon im Juni vor drastischen Unwetterschäden im Herbst gewarnt, wenn die bisher üblichen 200 Millionen Pfund im Jahr nicht sofort um wenigstens die Hälfte aufgestockt würden. Jetzt spricht der verantwortliche Minister von 400 Millionen Pfund, aber es geht längst nicht mehr um Vorbeugung und Schutz, sondern vorrangig um die Beseitigung der Unwetterfolgen.Im Süden Großbritanniens, in Wales, floss das Wasser in die Häuser von Familien, die noch mit den Folgen der letzten Überschwemmung kämpften, noch mit den Versicherungen um Geld für die kaum behobenen Schäden stritten. Viele Menschen entschieden sich gegen die angebotene Evakuierung, gegen das Notquartier in einer Schule oder einem Gesundheitszentrum, und blieben in ihren vier Wänden, auch ohne Strom und Heizung. Andere stiegen mit ihren Haustieren in den letzten Bus, besorgt, aber ruhig. Immer mal wieder sagte jemand vor laufender Kamera, man würde es schon schaffen. Ein alter Mann fügte hinzu: »Wir haben im Krieg zusammengehalten, das tun wir auch jetzt.« Es klang sachlich.Am härtesten betroffen waren Nord-Yorkshire und das historische York. Der Fluss Ouse, an dem die mittelalterliche Stadt liegt, erreichte seinen höchsten Stand seit 1625. Schwäne schwammen durch Straßen. Am zweiten Novemberwochenende ging der Pegelstand vieler Flüsse, auch der der Ouse, endlich ein wenig zurück. Wo es wich, hinterließ das Wasser Straßen und Plätze voller Schlamm. Auf der Ousebrücke, die in Yorks Zentrum führt, drängten sich vergangenen Sonntag die Leute, schüttelten die Köpfe, manche fotografierten den auf die doppelte Breite angeschwollenen Fluss. Schlammiges, braunes Wasser floss schnell und schwappte in die unterste Etage des eleganten Queens Hotel. Vor den Kneipen gegenüber lockte eine mit der Ankündigung »Seafood Specialist«, doch alle sind geschlossen, die Türen halb im Wasser verschwunden. Aber zwei Straßen weiter, wo es trocken ist, hat ein Gastwirt trotzig auf eine Tafel geschrieben: »Nein, ist nicht überschwemmt! Glaubt nicht, was die Leute vom Rundfunk erzählen. Ich will nichts als meinen Fisch verkaufen und Chips auf Eure Teller legen!«Auf Yorks Bahnhof herrscht trotz dieser Zuversicht unnatürliche Ruhe. Virgin, einer der Betreiber von Zügen in Großbritannien, teilt mit, dass am Wochenende hier nichts fährt, kein einziger Zug. Das zweite Unternehmen kündigt Züge zwischen London und Edinburgh an, allerdings erst ab Montag, und keinesfalls durchgehend, sondern von Busverkehr unterbrochen. Uniformiertes Personal steht auf dem Bahnhof für irritierte Reisende bereit, aber es fragt niemand mehr. Wer nicht unbedingt verreisen muss, lässt es besser. Daran ist man fast schon gewöhnt, das galt für viele Strecken schon vor der Wetterkatastrophe. Das Wasser hat die Situation nur verschärft. Seit Anfang Oktober vier Menschen durch ein schweres Zugunglück bei Hatfield starben, mussten Reisende stundenlang warten oder bekamen gar keine Zugverbindung mehr. Die Betreibergesellschaft des Schienennetzes - nach der Privatisierung der früheren britischen Staatsbahn und ihrer Zersplitterung in viele Unternehmen ist sie allein für das Netz, nicht aber für Züge und Fahrpläne zuständig - steht unter Druck, endlich die maroden Gleisanlagen zu reparieren. Wichtige Strecken wurden deshalb für Tage stillgelegt, zeitweilig fuhren die Züge nur noch langsam, so dass an einen regulären Fahrplan nicht mehr zu denken war.Britische Umweltexperten warnen: Auch bei durchschnittlichem oder geringem Regen im Laufe des Winters wird es bis April zu weiteren Überschwemmungen kommen, weil der Boden nicht noch mehr Wasser aufnehmen kann. Mehr als 160.000 Haushalte sind dann allein im Süden Großbritanniens von der Flut bedroht. Die Schäden belaufen sich nach Angaben einer großen Versicherung schon jetzt auf mehr als 200 Millionen Pfund, umgerechnet 650 Millionen Mark. Dabei sind die Langzeitwirkungen der Flut noch nicht absehbar. Mehr als die Hälfte der Kartoffelernte ist noch im Boden, ein großer Teil davon längst verrottet. In vielen Dörfern und Städten im Süden müssen sich die evakuierten Bewohner darauf einstellen, dass sie in diesem Jahr nicht mehr in ihre Häuser zurück können.In dieser angespannten Situation gab Finanzminister Brown, von dem die Gruppe der Fuel Protester - vor allem Fuhrunternehmer und Landwirte - eine deutliche Senkung des hohen Benzin- und Dieselpreises fordert, seinen Pre-Budget-Report für 2001. Blockaden wegen des hohen Steueranteils am Kraftstoffpreis hatten im September fast zum Stillstand auf der Insel geführt. Anfang November drohten die Spediteure mit weiteren Aktionen. Die Regierung hatte vor Browns Rede angekündigt, nicht nachgeben zu wollen, in dem Report fanden sich dann aber doch Punkte, die den Spagat zwischen einer wenigstens ansatzweise umweltbewussten Politik und Konzessionen an die Fuel Protester versuchten. So wird der Kraftstoffpreis bis April 2002 auf dem jetzigen Stand eingefroren. Außerdem sollen schwefelarmes Benzin und schwefelarmer Diesel ab 1. April umgerechnet zehn Pfennig billiger sein.. Zu wenig, sagen viele Fuhrunternehmer. Befriedigend ist für sie zwar die angekündigte BritTax Disc, eine LKW-Vignette für ausländische Unternehmen; trotzdem rollt weiterhin ein LKW-Konvoi durch das Land nach London, um Premier Blair zu beeindrucken.Doch die Unterstützung für die Protestierenden ist - verglichen mit September - geringer geworden. In einer Umfrage des Daily Telegraph gaben nur noch 56 Prozent der Bevölkerung an, dass die angekündigte Benzinpreissenkung nicht ausreichend sei. Die schwerste Flut seit einem halben Jahrhundert hat dazu geführt, dass mehr Menschen als sonst aktuelle Untersuchungen über die Klimaveränderungen auf der Erde genauer zur Kenntnis nehmen. Den Zusammenhang zwischen der weltweiten Erwärmung und dieser Herbstflut auf der Insel bestreitet kaum noch jemand. Louise Wood, die zu denen gehört, die auf dem Land wohnen und bis zum nächsten Bahnhof keine Busverbindung nutzen können, das Auto also brauchen, hat ihren Jeep gerade auf einer überfluteten Straße ruiniert und es gerade noch bis zur Werkstatt geschafft. »Ich glaube, manche fragen sich jetzt ernsthaft, ob die globale Erwärmung tatsächlich ein Problem der Zukunft ist, mit dem sich unsere Enkel herumschlagen werden. Vielleicht betrifft das alles ja auch uns schon.«
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