"Gegen das Diktat der Angst" - Drei Jahre Eingriff in die Grundrechte

Corona-Maßnahmen - Zeitdokument: In ihrem Aufruf "Gegen das Diktat der Angst" vom 30.3.20 warnte das Berliner Praxiskollektiv vor den Folgen der Grundrechtseinschränkungen.

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Ende März 2020 veröffentlichte das Berliner Praxiskollektiv - ein seit fast 45 Jahren in Selbstverwaltung bestehendes linkes Projekt hausärztlicher Medizin in Kreuzberg - einen Aufruf "Gegen das Diktat der Angst". Die zu diesem Zeitpunkt von der Bundesregierung verhängten Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Virus-Infektionen waren der Beginn der jetzt drei Jahre anhaltenden Grundrechtseinschränkungen. Die Mitglieder des Praxiskollektivs warnten vor den sozialen und gesundheitlichen Folgen der Angst, die die damals als "alternativlos" bezeichneten Maßnahmen zu diktieren schien. Sie befürchteten, dass langanhaltende Verunsicherung und soziale Isolation schwere gesundheitliche Schäden verursachen könnten. Der Aufruf sollte helfen, Angst und Panik abzubauen und die Corona-Infektion und ihre Folgen ins Verhältnis zu setzen zu den Maßnahmen, aber auch zu anderen Lebensrisiken. Gleichzeitig wurde vor den weltweiten Auswirkungen der Ökonomisierung in den Gesundheitssystemen gewarnt, die diese auch ohne Corona in den täglichen Ausnahmezustand trieben.

In den letzten Monaten wurde nun auch in der Öffentlichkeit mehr und mehr wahrgenommen, welch schwere gesundheitliche und soziale Folgen die staatlich verhängten Pandemiemaßnahmen mit ihren Grundrechtseingriffen hatten und haben. Weniger thematisiert wurde, wer eigentlich die Ängste so stark geschürt hat, aus welchen Motiven dies geschah und wer von der allgemeinen Verunsicherung und den staatlichen Interventionen profitierte. Eine Aufarbeitung und Diskussion darüber ist unerlässlich. Dies umso mehr, da sich für die Profiteure der Angst in der Coronakrise - also in erster Linie für den medizinisch-pharmakologisch-digitalen Komplex - die Investitionen in scheinbar die Sicherheit der Menschen erhöhende Maßnahmen mehr als amortisiert haben. Der aus der Angst geborene Ruf nach immer stärker werdender Kontrolle führt in den Verlust von Selbstbestimmtheit und Autonomie. Der Preis ist die Unfreiheit und Abhängigkeit von denen, die kontrollieren, medikalisieren und kassieren.

Es ist Zeit sich dagegen zu wehren. Es ist Zeit das Gesundheitswesen global aus der neoliberalen Verwertung zu befreien. Es ist Zeit mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen, das eigene Immunsystem zu stärken und etwas gegen die übermächtige Angst zu tun. Im Aufruf heißt es zum Schluss: "Gegen das Diktat der Angst, für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Vernunft!"

Hier der Aufruf:

" Gegen das Diktat der Angst

Erklärung Eurer hausärztlichen Praxis zur Coronakrise

1. In unserer Praxis behandeln wir derzeit keine Grippewelle, sondern eine Welle aus Angst und Verunsicherung. Unsere Telefone klingeln ununterbrochen, unsere Emails sind voll von Anfragen von zum Teil verzweifelten Menschen, die wegen leichter Erkältungszeichen Angst vor einer vermeintlich tödlichen Krankheit haben. Unser Team ist überlastet. Wir alle sind ständig damit beschäftigt, zu entscheiden, wer einen Abstrich auf Sars-Cov2 bekommen muss. Für die Durchführung der Abstriche fehlen uns die Masken. Unser Wartezimmer ist relativ leer, die schwerkranken oder chronisch kranken Menschen trauen sich nicht mehr zur Behandlung.

2. Fachärzt*innen, Psychotherapeut*innen und Heilmittelerbringer*innen müssen ihre Untersuchungs- und Behandlungsangebote einschränken. Diagnostik zum Ausschluss von schweren Erkrankungen findet kaum noch statt. Ganze Krankenhausabteilungen und Reha-Kliniken werden geräumt, Patient*innen aus psychosomatischen, psychiatrischen und psychotherapeutischen Stationen, dem Suchtbereich sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrie werden entlassen in eine ambulante Unterversorgung. Dringend notwendige Gespräche finden in den meisten Beratungsstellen nicht mehr statt. Es kommt zu einer massiven Versorgungseinschränkung im gesamten Hilfsapparat, deren Folgen bisher nicht absehbar sind.

3. Die Menschen, insbesondere Kinder und Ältere werden in ihren Wohnungen in der Großstadt durch die öffentlichen Empfehlungen und Vorschriften isoliert. Einschränkung der Bewegung, mangelndes Sonnenlicht und verminderte Zufuhr frischer Luft verschlechtern den Zustand des Immunsystems und erhöhen damit die Infektanfälligkeit, das ist seit Rudolf Virchow bekannt. Die Psycho-Neuro-Immunologie hat erforscht, dass Angst, Verunsicherung und soziale Isolation ebenfalls die Immunität beeinträchtigt. Eine Zunahme häuslicher Gewalt, von Alkohol-Missbrauch und Suiziden ist zu befürchten. Die gesundheitlichen und sozialen Folgen einer wochenlangen Isolation von Millionen von Menschen werden massiv sein.

4. Jedes Jahr gibt es Grippewellen unterschiedlichen Ausmaßes. Sie entstehen durch eine Vielzahl verschiedener, sich ständig verändernder Viren mit exponentieller Verbreitung. 2017/18 waren in der Grippesaison die Hausarztpraxen und Intensivstationen überfüllt, mehr als 25.000 Menschen sind in Deutschland grippeassoziiert gestorben. Dafür gab es keine Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit, keine Großveranstaltung wurde abgesagt. Jetzt steht plötzlich ein einziges Virus im Fokus, von dem noch niemand genau sagen kann, ob es wirklich deutlich gefährlicher als andere Grippeviren ist. Eine Gesellschaft, die ängstlich und fixiert einen schmalen Ausschnitt einer möglichen Gefahr für das Leben Einzelner überwiegend virtuell und medial wahrnimmt und nur noch versucht, darüber Kontrolle zu erlangen, wird zwanghaft und krank. Der Preis für das Diktat der Angst ist die Unfreiheit.

5. Jeden Tag versuchen wir mit unserer ärztlichen Arbeit gesundheitliche Risiken zu minimieren, bestenfalls Krankheiten zu heilen. Schon die normale Versorgung von vulnerablen Gruppen stößt bei knappen Ressourcen an ihre Grenzen. Die winterliche Mehrbelastung durch Infekte überfordert jährlich die vorhandenen Kapazitäten im ambulanten und stationären Bereich. Durch Sparmaßnahmen und Ökonomisierung befinden sich die Gesundheitssysteme weltweit täglich im Ausnahmezustand. Eine verbesserte Ausstattung und Aufwertung medizinischer Berufe und Befreiung von wirtschaftlichen Zwängen sowie die Vorhaltung medizinischer Betreuungskapazität kann jeden Tag tausende Menschenleben retten.

6. Lasst uns endlich wieder unsere ganz normale hausärztliche Versorgung machen!

Wir fordern eine Rücknahme der das Gesundheitssystem beeinträchtigenden Maßnahmen!

Für die menschliche Gesundheit sind Bewegung und soziale Kontakte unverzichtbar.

Wir lehnen den aktuellen Eingriff in die Freiheitsgrundrechte als unverhältnismäßig ab! Menschen durch Verängstigung in die Isolation zu treiben ist inakzeptabel. Alte Menschen sollen selbst entscheiden, ob und wie sie am sozialen Leben teilnehmen wollen.

Wir brauchen eine offene Diskussion darüber, was für ein Leben wir führen wollen und wieviel uns ein gut funktionierendes Gesundheitssystem wert ist.

Gegen das Diktat der Angst, für ein selbstbestimmtes Leben in Freiheit und Vernunft!

Berlin Kreuzberg, den 31.3.20

Die Kolleg*innen des MVZ praxiskollektiv reiche 121 e.G. "

Der Autor dieses Artikels ist Mitglied des Praxiskollektivs und hat an dem Aufruf mitgewirkt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Claudius Loga

Facharzt für Allgemeinmedizin im linken "praxiskollektiv" in Berlin-Kreuzberg

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