Kontrollwut schürt Misstrauen

Kindesmissbrauch Das neue Kinderschutzgesetz geht an den Realitäten der Kinderhilfe vorbei. Fachverbände kritisieren Pflichtbesuche durch das Jugendamt – auch die SPD zweifelt nun

Kevin aus Bremen, Lea-Marie aus Teterow, Lea-Sophie aus Schwerin, Jessica aus Hamburg. Der eine wurde tot im Kühlschrank seines drogenabhängigen Vaters gefunden, die zweite gezwungen, Kalkreiniger zu trinken, die anderen beiden sind verhungert. Die Namen der gequälten und teilweise bis zum Tode misshandelten Kinder sind durch die Presse gegangen. Besonders tragisch ist an diesen Fällen, dass die zuständigen Jugendämter Bescheid wussten und Ärzte keinen Verdacht schöpften.

Wie kann man solche Fälle in Zukunft verhindern? Schätzungen gehen von jährlich 250.000 bis 500.000 vernachlässigten oder misshandelten Kindern unter sieben Jahre aus, circa 80 bis 120 Kinder sterben pro Jahr an den Folgen von Misshandlung. Wenn es um die Forderungen nach politischen oder gesetzlichen Konsequenzen geht, haben meist diejenigen am wenigsten Recht, die einfache Lösungen anstreben. Verpflichtende U-Untersuchungen beim Kinderarzt sind so ein Beispiel. Missbrauch verhindert man damit kaum.

Und die Jugendämter? Sie haben einen schwierigen Job, denn sie sind einerseits gefürchtet, sollen aber andererseits – meist über Familienhelfer von freien Trägern – Vertrauen aufbauen, um überhaupt Zugang zu problematischen Familien zu bekommen. Ein neues Gesetz soll den Kinderschutz nun verbessern. Die Ergebnisse des "Kinderschutzgipfels" von 2007 sind in das neue Kinderschutzgesetz aus dem Hause von der Leyen gegossen worden, das am Donnerstag in erster Lesung im Bundestag beraten wird. Sinnvoll ist darin zunächst, dass bei einem Wohnortwechsel dem neuen Jugendamt Informationen über problematische Familien zugeleitet werden dürfen.

Doch von Kinderverbänden wird das Gesetz heftig kritisiert. Es verpflichtet Jugendämter bei Verdacht auf Kindesmisshandlung zu Hausbesuchen bei (möglicherweise) betroffenen Familien. Jugendamtsmitarbeiter sollen gemeldete Kinder „in Augenschein“ nehmen und nicht nur nach Aktenlage arbeiten. Wer beruflich mit Kindern zu tun hat soll Verdachtsfälle dem Jugendamt melden müssen.

Allerdings ist dabei die Praxis nicht bedacht worden. Was soll der amtliche Mitarbeiter beispielsweise tun, wenn ihm nicht die Tür geöffnet wird? Gleich mit der Polizei wiederkommen? Ein mühsam von einem Familienhelfer aufgebautes Vertrauen könnte mit einem solchen Pflichtbesuch sofort zunichte gemacht werden, warnen Experten. Manche fürchten sogar, das gesamte Kinderhilfesystem könne mit diesen Verpflichtungen zusammenbrechen, denn einerseits werden die Meldungen exorbitant zunehmen – allein schon, weil sich damit beispielsweise Erzieherinnen gegen Klagen absichern –, andererseits wird bei einer zunehmenden Flut von Hinweisen das Jugendamt überfordert sein, weil sie nun bei jedem Hinweis Hausbesuche machen sollen. Das Deutsche Institut für Jugendhilfe und Familienrecht (DIJuF) warnt vor katastrophalen Folgen. Es sei geradezu naiv, zu denken, bei einem Hausbesuch könne man Missbrauch sofort erkennen.

Auch die SPD-Bundestagsfraktion rückt mittlerweile teilweise vom Gesetz ab. Sie will im Mai ein Fachgespräch über das Thema Kinderschutz einberufen. Der Vorstoß aus dem Bundesfamilienministerium ist geprägt von Misstrauen gegenüber den Behörden, anstatt diese konstruktiv zu unterstützen. Dafür, dass das Bundesfamilienministerium seit über drei Jahren an dem Problem arbeitet, ist das neue Kinderschutzgesetz ziemlich grob gezimmert und geht an den realen Problemen der Kinder- und Jugendhilfe vorbei. Hier wurde offenbar nicht mit Leuten gesprochen, die Erfahrungen aus ihrer alltäglichen Arbeit in diesem sensiblen Bereich besitzen. Wollte die Bundesregierung wirklich einen Beitrag im Bereich Jugendhilfe und Kinderschutz leisten, müsste sie diesen notorisch unterfinanzierten Bereich mit mehr kompetentem Personal unterstützen.

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Geschrieben von

Connie Uschtrin

Redakteurin Politik

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