Am 20. September 2017 versammelten sich Tausende Demonstranten vor dem Wirtschaftsministerium Kataloniens, um die Polizeieinheiten zu blockieren, die im Gebäudeinneren nach Unterlagen für das verbotene Unabhängigkeitsreferendum suchten. Es handelte sich um einen Protest der Friedfertigen; Aktivisten aus mittelständischen Familien, dazu viele Senioren, sorgten für gelassene Stimmung, als sei es eine der vielen harmlosen Demonstrationen, die bis dahin die Unabhängigkeitsbewegung organisiert hatte. Harmlos sollte es bleiben – das wollten damals auch Jordi Sànchez und Jordi Cuixart, als die beiden Jordis bekannt, die eher gemäßigten Vorsitzenden der Unabhängigkeitsorganisationen Assemblea Nacional Catalana (ANC) und Òmnium. Sie stiegen am Abend des 20. September zu fortgeschrittener Zeit, gegen 23 Uhr, in ein Polizeiauto. Demonstranten hatten das Fahrzeug mit Graffiti besprüht und umringt, woraufhin Sànchez und Cuixart erklärten: „So gut es geht und auf ruhige Weise lösen wir jetzt diesen Protestzug auf.“ „Nein!“ – riefen die Demonstranten – „Keinen Schritt zurück!“ So überwältigt die Jordis zunächst waren, mühten sie sich doch so lange, bis sich die Ansammlung tatsächlich auflöste.
Zwei Jordis hinter Gittern
Zwischenzeitlich sitzen die beiden seit einem Jahr in Untersuchungshaft. Die Staatsanwaltschaft bezichtigt sie eines so schweren Delikts wie der Rebellion und fordert 17 Jahre Haft. Die Ermittlungsrichterin Carmen Lamela von der Audiencia Nacional, dem Nationalen Strafgerichtshof, erkennt den beiden Jordis „eine besondere Rolle bei den Demonstrationen“ vom 20. September und an den Folgetagen zu. „Sie führten die Proteste an, ergriffen die Initiative einer angeblichen Verhandlung mit der Polizei und leiteten die Aktionen der Versammelten“, so die Richterin. Im Gespräch mit der Zeitung El País grenzt sich Jordi Cuixart zwar von jeder Form der Gewalt ab, unterstreicht aber zugleich: „Weder der Nationale Strafgerichtshof noch der Oberste Gerichtshof bieten die Gewähr für ein gerechtes Verfahren.“
Mit seiner Kritik an einer erkennbaren Parteilichkeit der Justiz ist Cuixart nicht allein. Am 10. November wurde in Madrid vor dem Obersten Gerichtshof sowie in anderen spanischen Städten gegen das Urteil der Kammer demonstriert, aus dem hervorgeht, dass die Steuer auf Hypotheken nicht von den Kreditgebern – also den großen Geldinstituten Spaniens –, sondern von den Eigentümern gestemmt werden soll. Das Urteil war nicht nur deshalb umstritten, weil es nach einer umkämpften internen Debatte und mit hauchdünner Mehrheit zustande kam. 15 Richter des zuständigen Plenums stimmten dafür, 13 waren dagegen.
Es sorgte in der Öffentlichkeit teils für heftige Empörung, dass der Oberste Gerichtshof von seiner Entscheidung, getroffen am 16. Oktober, Abstand nahm. Bei der hieß es, dass eigentlich die Banken die Hypothekensteuer zu zahlen hätten. Das ursprüngliche Urteil beanspruchte zudem, auch rückwirkend zu gelten. Danach hätte jeder Betroffene die Steuer auf Hypotheken – je nach Region liegt sie zwischen 0,5 und 1,5 Prozent des Immobilienpreises – prinzipiell von den Banken zurückfordern können. Die Geldinstitute liefen Sturm gegen diese Entscheidung. Einerseits wurde damit gedroht, die Steuer weiterhin auf die Kunden abzuwälzen, andererseits eine Krise des Finanzsektors prophezeit, der sich nach dem Crash von 2008 gerade etwas erholt habe.
Die Kritik an der letzten, „bankenaffinen“ Entscheidung des Obersten Gerichtshofes geriet derart massiv (selbst konservative Stimmen wurden laut), dass schließlich die sozialistische Zentralregierung eingriff. Premier Pedro Sánchez beteuerte, dass derartige Steuern „nie mehr“ von den Klienten gezahlt werden dürften. Per Verordnung wurden die Banken dazu gezwungen, ab sofort die Hypothekensteuer zu übernehmen. Darüber hinaus kritisierte Sánchez den Obersten Gerichtshof in einer für ein Regierungsoberhaupt unüblich harten Manier: „Der Oberste Gerichtshof muss über die Debatte nachdenken, die über seine Glaubwürdigkeit entbrannt ist. Die richterliche Gewalt ist zu respektieren, aber keine Gewalt ist der Kritik enthoben.“
Ein öffentlicher Schwachkopf
Tatsächlich ist das Urteil über die Hypothekensteuer nur die letzte Episode einer langen Reihe von Polemiken, denen sich die spanische Justiz nicht zufällig ausgesetzt sieht. Erst am 6. November hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) festgestellt, dass der baskische Unabhängigkeitspolitiker Arnaldo Otegui bei seiner Verurteilung zu sechs Jahren Haft im Jahr 2009 seitens der Strafjustiz kein faires Verfahren erhalten habe.
Zwar ist Spaniens Rechtsprechung grundsätzlich mit den Rechtssystemen des EU-Umlandes vergleichbar, sticht allerdings durch ihre Politisierung hervor. Gerade bei brisanten Verfahren, wie sie gegen die katalanischen Unabhängigkeitspolitiker laufen – und bei denen über so schwerwiegende Tatbestände wie Rebellion, Aufstand oder Veruntreuung öffentlicher Mittel Urteile fallen dürften –, bleibt die spanische Justiz alles andere als neutral. Die Online-Publikation Eldiario.es deckte die Chats katalanischer Richter nach dem Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober auf. Da war unter anderem zu lesen: „Mit Unabhängigkeitsputschisten wird nicht verhandelt oder ein Dialog geführt“. Oder: „Der Staatsstreich in Katalonien wird mit Siegern und Besiegten beigelegt oder er wird nicht beigelegt.“ Die Journalistin Carmela Negrete meint: „Dass ein katalanischer Staatsanwalt bei Twitter öffentlich den Begriff Schwachkopf gebraucht, um über die Opfer der Polizeigewalt am Tag des friedlichen Referendums vom 1. Oktober zu sprechen, legt das erreichte Ausmaß der Politisierung offen.“ Nun hätte die Justiz beim Konflikt um Katalonien nie einen derart zentralen und ambitionierten Part übernehmen sollen. Es kam dazu, weil sich zuerst die konservative Regierung von Premier Mariano Rajoy weigerte (sie war bis Juni 2018 im Amt), den Konflikt mit Katalonien politisch zu deeskalieren. Stattdessen wurden die Staatsanwaltschaften vorgeschickt. Andererseits hat die Unabhängigkeitsbewegung von den strittigen Gerichtsverfahren profitiert.
Der legitime Protest für die Freilassung der „politischen Gefangenen“ verdeckt die strategische Orientierungslosigkeit, in der sich verschiedene ihrer Fraktionen seit einem Jahr befinden. Gegen die Pragmatiker, die für eine sanfte Abkehr vom Unabhängigkeitskurs plädieren, um zunächst dessen Basis zu erweitern, hält der harte Kern rund um den Exilpräsidenten Carles Puigdemont an der Konfrontation mit dem Zentralstaat fest. Was dabei gelegen kommt, das ist die Möglichkeit, „Madrid“ als Synonym für ein autoritäres, franquistisch geprägtes Regime zu attackieren, desen Politikeliten, Justiz und Ordnungskräfte zum Kreuzzug gegen das friedliche und demokratische katalanische Volk entschlossen sind. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Politik hat Verantwortung auf die Justiz abgewälzt und versucht, einen politischen Konflikt durch juristische Mittel einzudämmen. Die derzeitigen Gerichtsverfahren dienen nun Hardlinern in Barcelona wie Madrid dazu, die Polarisierung voranzutreiben.
Am 19. November gab es landesweit einen Generalstreik von Richtern und Staatsanwälten. Angesichts der „beispiellosen Imagekrise der Justiz“ verlangten die Initiatoren mehr materielle Ressourcen und vor allem eine größere Unabhängigkeit von der Politik. Es wurde angedroht, sollte der Ausstand nicht zum Umdenken der Regierung führen, sei mit weiteren Mobilisierungen zu rechnen. Man betrachte das als „eine Frage der Würde“.
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