Katapult zur Macht

Spanien Die Sozialisten von Pedro Sánchez entscheiden sich im richtigen Moment für die richtige Taktik und übernehmen die Regierungsverantwortung
Ausgabe 23/2018

Den Coup, der sich am 31. Mai und am 1. Juni im Congreso de los Diputados, dem spanischen Parlament, abspielte, hätte wenige Tage zuvor niemand für möglich gehalten. Nicht einmal seine beiden Hauptdarsteller – der abgesetzte Konservative Mariano Rajoy und der Sozialist Pedro Sánchez, der das Misstrauensvotum gegen Rajoy präsentiert und sich als Gegenkandidat an die Regierungsspitze katapultiert hat. Ersterer schien das Misstrauensvotum bis zuletzt für heiße Luft zu halten. Dass die Sozialisten eine derart heterogene Koalition aus Podemos, baskischen Nationalisten und katalanischen Separatisten zu versammeln vermögen, schien Rajoy undenkbar. Hatte der Partido Nacionalista Vasco (PNV) nicht erst in der zweiten Maihälfte für den Haushalt des bisherigen Kabinetts gestimmt? Und war den katalanischen Separatisten nicht weiter an einer Polarisierung gelegen, die mit einem Hardliner wie Rajoy garantiert war? Zumindest Exilpräsident Carles Puigdemont schien daran interessiert.

Dass sich trotz alledem im Congreso eine Mehrheit fand, um einen Regierungswechsel voranzutreiben, beschreibt die Schriftstellerin Almudena Grandes mit einer prägnanten Metapher: „Wer sich aus einem sinkenden Schiff retten möchte, fragt sich nicht, ob ihm seine Nachbarn im Rettungsboot sympathisch oder unsympathisch sind, sondern nur, ob sie alle gemeinsam rudern, um sich in Sicherheit zu bringen.“ Genau so dürften die Unterstützer des Misstrauensvotums gegen Rajoy gedacht haben. „Es ist kein Ja für Sánchez, es ist ein Nein gegen Rajoy“, resümierte Joan Tardà, Parlamentarier der katalanischen Unabhängigkeitspartei ERC. Tatsächlich hätten am 1. Juni nicht 180 von 350 Abgeordneten für einen Abgang Rajoys gestimmt, wäre nicht eine Woche zuvor das Gerichtsurteil in der Korruptionsaffäre „Gürtel“ gefallen. Die Richter der Audiencia Nacional, des nationalen Strafgerichtshofs, hatten bestätigt: Rajoys konservativer Partido Popular (PP) hat jahrzehntelang illegale Spenden entgegengenommen – und im Gegenzug bei der Vergabe öffentlicher Aufträge systematisch die „spendablen“ Konzerne aus der Event-, Kommunikations- sowie Immobilienbranche bevorzugt. In der Urteilsbegründung ist von einem „zuverlässigen und leistungsfähigen System der institutionellen Korruption“ die Rede.

Aussitzen wie gehabt

Mariano Rajoy selbst zeigte sich in der Parlamentsdebatte vom Urteil unbeeindruckt. Er bestand darauf, dass Einzelpersonen – vorneweg Luis Bárcenas, der ehemalige Schatzmeister der Partei – für die Korruption verantwortlich und die Schuldigen in Regionen wie Valencia oder Madrid längst bestraft seien. Auch machte er kein Hehl aus seiner Überzeugung, dass der Partido Popular mit dem Sieg bei den Parlamentswahlen von 2016 – ebenso den Voten von 2015 und 2011 – demokratisch legitimiert sei, weiterhin die Exekutive zu stellen. Rajoy, dessen Maxime stets die Passivität war, machte auch diesmal keine Anstalten, entschieden zu reagieren, sei es durch seine Demission oder die Ausrufung von Neuwahlen. Doch die Strategie, wie üblich zu warten, bis der Sturm abflaut, ging diesmal nicht auf. Nach dem Urteil im Fall „Gürtel“ war der Aufschrei in der spanischen Öffentlichkeit groß. Für viele brachte es das Fass zum Überlaufen. Immer wieder waren bei den Konservativen Korruptionsaffären aufgedeckt worden, und immer wieder war die Parteizentrale hochmütig über alles hinweggegangen.

Sozialistenchef Pedro Sánchez sah im Urteil der Audiencia Nacional die Chance, sein politisches Schattendasein zu beenden, dem Umfragetief zu entkommen, in dem er seit Monaten steckt, und wieder ins Zentrum der Debatte vorzustoßen. Sein Misstrauensvotum war zunächst weniger auf politischen Erfolg denn auf einen öffentlichen Effekt gerichtet. „Die konservative Arithmetik des Parlaments macht es uns schwer, die Initiative wird sich aber trotzdem gelohnt haben“, teilte Sánchez im Vorhinein mit.

Die durchschlagende Wirkung eines Misstrauensvotums, das zunächst nur die 84-köpfige Fraktion der Sozialisten unterstützte, war schließlich der parlamentarischen Konstellation wie dem zeitlichen Kalkül Rajoys zu verdanken. Dass der darauf setzte, das Misstrauensvotum möglichst schnell – höchstens eine Woche nach dem Urteil im Fall „Gürtel“ – hinter sich zu bringen, war ein Fehler. Selbst für die vorsichtigen baskischen Nationalisten des PNV wurde es plötzlich schwierig, ihm beizustehen. Zumal die katalanischen Parteien wild entschlossen waren, Rajoy für seine harte Line im Katalonien-Konflikt abzustrafen. Auch der Druck der Straße spielte eine Rolle. Gerade im Baskenland hatte es landesweit die schärfsten Proteste gegen die Rentenkürzungen der Konservativen in Madrid gegeben. Das Zünglein an der Waage war letztlich ein Schachzug von Podemos. Die Linken verkündeten, sollte Sánchez mit seinem Vorstoß scheitern, würden sie mit der rechtsliberalen Partei Ciudadanos ein zweites Misstrauensvotum anberaumen, auf das sofortige Neuwahlen folgen sollten. Durch einen baldigen Urnengang wäre Ciudadanos mutmaßlich zur neuen rechten Volkspartei aufgestiegen. Damit hätte ein politisches Lager an Einfluss gewonnen, das in der Territorialfrage noch zentralistischer und nationalistischer als der PP auftritt. Derart in die Enge gedrängt, entschied sich der baskische PNV gegen Rajoy: Seine fünf Abgeordneten haben letztlich entschieden, dass Sánchez mit 180 gegen 169 Stimmen (von PP und Ciudadanos) zum Regierungschef gewählt wurde.

Auftrumpfen wie noch nie

Ein kühnes Manöver war erfolgreich. Aber was nun? Den Vorschlag von Podemos, eine linke Koalitionsregierung zu schmieden, hat Sánchez abgelehnt. Stattdessen plant er ein rein sozialistisches Kabinett, das sich darauf konzentrieren will, die umstrittenen Gesetze der Konservativen zu novellieren oder zu kippen, vom Strafrecht über die Rentenreform hin zu den Antidiskriminierungsgesetzen. Überdies möchte er den Dialog mit Barcelona wiederaufnehmen. Die dort gerade gewählte Regionalregierung von Quim Torra erwartet viel. Nicht nur soll der Zwangsverwaltung durch Madrid ein Ende gesetzt und die Autonomie wiederhergestellt, sondern auch Kataloniens Selbstbestimmungsrecht anerkannt werden. Es fragt sich, ob das mit einer Administration in Madrid möglich ist, die vom rechten Lager als „Frankenstein-Regierung“ verhöhnt wird.

Ohne Frage wirkt Sánchez, getragen von einer parlamentarischen Minderheit, nicht eben unerschütterlich. Wie lange kann er sich halten? Auch die Verpflichtung, mit dem Haushalt des Vorgängers Rajoy zu regieren, um die Basken nicht zu verstimmen, wird der sozialen Wende, die Sánchez verspricht, enge Grenzen setzen.

Ungeachtet dessen öffnet die Abwahl von Rajoy ein Fenster der politischen Gelegenheit, das geschlossen, ja regelrecht verrammelt schien. Mit dem Katalonien-Konflikt überschattete ein „Patriotismus der Fahnen“ in Madrid und anderswo, was in Interesse von mehr Verteilungsgerechtigkeit so lange schon auf der Tagesordnung steht. Jetzt kann die Linke zeigen, dass es anders geht, dass dem patriotischen ein soziales Spanien gegenübersteht. Und sich dafür Mehrheiten organisieren lassen. Auch in Katalonien dürfte man sich fragen: Ist der Unabhängigkeit vielleicht besser gedient, wenn man die Einflussmöglichkeiten nutzt, über die man verfügt, anstatt so zu tun, als wäre man bereits von Madrid abgekoppelt? Sánchez brauchte die Separatisten für sein Misstrauensvotum, jetzt brauchen sie ihn. Ciudadanos-Chef Albert Rivera steht mit einem aggressiven Projekt der Rezentralisierung bereit, vor dem Katalanen und Basken zittern, zumal sich die Rechtspartei im Aufwind befindet und von einem angeschlagenen PP profitieren dürfte.

Pedro Sánchez war bisher, und ist es wohl immer noch, ein weder sehr weitsichtiger noch besonders profilierter Politiker. Aber er ist einer, der zäh bleiben und immer wieder aufstehen kann, um seine Chance zu nutzen. Für seinen Partido Socialista Obrero Español (PSOE) kann das ebenso von Vorteil sein wie für die spanische Linke insgesamt. Es geht im Sinne Niccolò Machiavellis um die virtù – die Tugend, eine günstige Gelegenheit beim Schopf zu packen.

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Geschrieben von

Conrad Lluis Martell | conrad lluis

Forscht zur Bewegung der indignados (Empörte) und ihren Auswirkungen auf Spaniens Politik und Gesellschaft, lebt in Barcelona, liebt den Bergport.

conrad lluis

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