Am 1. März hielt das Parlament de Catalunya seine erste Sitzung seit den Regionalwahlen am 21. Dezember ab. Das Ereignis war als „sessió de desbloqueig“ beworben worden, weil es galt, die Blockade zu überwinden, in der Katalonien nicht erst seit Dezember, sondern spätestens seit dem gewaltsam unterdrückten Unabhängigkeitsreferendum vom 1. Oktober 2017 steckt. Doch statt entkrampft zu agieren, wurde alles verkrampfter. Zunächst begann die Session um Stunden verspätet, weil sich die Unabhängigkeitsparteien auf eine Last-Minute-Erklärung einigen mussten, die alle – Konservative, Liberale, Sozialdemokraten und Linksradikale – zufriedenstellte. Als die Sitzung eröffnet war, versuchte die antiseparatistische Partei Ciutadans – mit 25 Prozent und 35 Abgeordneten hat sie die stärkste Fraktion – die Tagesordnung zu boykottieren, indem sie lautstark angebliche Verfahrensverstöße der Independentistes beklagte.
Als endlich die inhaltliche Debatte begann, waren die Fronten allseits verhärtet. Jede der sieben Fraktionen folgte der eigenen Agenda und holte zur Generalkritik am Kurs des jeweils gegnerischen Blocks aus – des Lagers der Separatisten oder der Antiseparatisten. Es blieben auch giftige Seitenhiebe auf Verbündete nicht aus, sodass eine Atmosphäre permanenter Gereiztheit entstand. Zunächst versuchte sich der Linke Xavier Domènech, Vorsitzender der Podemos-Fraktion, mit einer logischen Kapriole. Einerseits verteidigte er das Referendum vom 1. Oktober als eine der wichtigsten Mobilisierungen „seit Jahren“, andererseits bezeichnete er die symbolische Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober, die sich auf eben dieses Votum berief, als einen der größten Fehler, den die Generalitat, Kataloniens Regionalregierung, je begangen habe. Dazu beschuldigte Domènech die Separatisten, das Parlament zu entmachten und politische Parallelstrukturen zu schaffen, um dem nach Brüssel geflohenen Ex-Regionalpräsidenten Carles Puigdemont eine Schlüsselstellung in der künftigen Exekutive zu sichern. „Es vereint Sie mehr die Vergangenheit als die Zukunft. Sie schaffen Symbole, keine Politik“, so Domènech, der verschwieg, welchen Ausweg Podemos anzubieten hätte. Stattdessen behalf sich der Historiker mit einer Geschichtslektion über die 1930er Jahre, als der damalige Regionalpräsident Lluís Companys das Parlament de Catalunya als einzige Instanz katalanischer Souveränität verteidigte. Domènech vergaß anzumerken, dass der jetzigen Legislative die Souveränität schwerlich zu bestreiten ist. Schließlich haben die Unabhängigkeitsparteien ihre absolute Mehrheit legitim an der Urne erstritten.
Hang zum Kuhhandel
Quim Torra, Abgeordneter von Junts per Catalunya, dem Mitte-rechts-Bündnis, das Puigdemont einst gründete, um die Unabhängigkeit voranzutreiben, flüchtete ebenfalls vom Heute ins Damals. Die allein legitime Repräsentationsinstanz der Katalanen sei das Regionalparlament, und zwar seit dem 14. Jahrhundert. Dem stehe ein ewig autoritäres Spanien gegenüber, von der Diktatur Miguel Primo de Riveras (1923 – 1930), über die Ära Francos (1939 – 1975) bis hin zur „bourbonischen Restauration“, in Spanien als demokratische Transition des Königs Juan Carlos (1975 – 2014) bekannt. Dabei sei Katalonien, so Quim Torra, stets brutal unterdrückt worden. „Nur mit der katalanischen Republik werden wir frei sein“, so die Schlussfolgerung, mit der still darüber hinweggegangen wurde, dass sich die katalanische Rechte mit jenem „archaischen“ und „repressiven“ Zentralstaat lange gut arrangierte, ja, unter dem Konservativen Artur Mas zwischen 2010 und 2012 als Musterschüler der von Madrid ausgehenden Austeritätspolitik auftrat.
Die in Katalonien so verhasste „Kultur der Transition“ mit ihrem autoritären Demokratieverständnis, das die Politikereliten handeln lässt und das Volk zum Zuschauen verurteilt, ist im Unabhängigkeitslager lebendiger, als vielen an der Basis lieb ist. Die vergangenen Wochen lieferten dafür viel Anschauungsmaterial. Die Führer von Junts per Catalunya und der sozialliberalen Esquerra Republicana de Catalunya (ERC), der anderen großen Unabhängigkeitspartei, versuchten sich gemeinsam mit dem exilierten Puigdemont an einem Kuhhandel zur Regierungsbildung. Erst hieß es, Puigdemont wolle zurückkehren, um Präsident zu werden. Dann wurde kolportiert, dass er Elsa Artadi – eine seiner Vertrauten – als Kandidatin auserwählt habe. Später wurde gemutmaßt, der Ex-Präsident wünsche sich eine parallele Regierungsstruktur in Brüssel, einen „Rat der Republik“, um so am längeren Hebel zu sitzen.
Die ERC – sie erreichte wie Junts per Catalunya im Dezember 21 Prozent – gab zu verstehen: Puigdemont könne symbolisch Präsident bleiben, aber dem inhaftierten ERC-Chef Oriol Junqueras gebühre die faktische Exekutivgewalt. So knirschte es bei den Independentistes, und der Streit wurde mit jeder neuen Vorladung zum Obersten Gerichtshof bitterer: Wird es mich mit einer hohen Geld- oder gar Haftstrafe treffen, weil ich zu stark auf der Unabhängigkeit beharre? Viele katalanische Politiker dürften sich das vor Gericht innerlich gefragt haben, um dann ihre Schlussfolgerungen zu ziehen.
Tatsächlich hinterlassen die Urteile, Haftstrafen und Drohungen der spanischen Justiz ihre Spuren. Verschanzt hinter blumiger Rhetorik achtet das Unabhängigkeitslager darauf, einstigen Ungehorsam zu meiden. So wird bei den Verhandlungen zur Regierungsbildung die „revolutionärste“ Komponente – der procés constituent, der Gründungsprozess der neuen Republik – fallengelassen. Dies missfällt der linksradikalen Partei CUP ebenso wie Hunderten von Komitees zur Verteidigung der Republik (CDR), die seit Oktober überall in Katalonien aktiv sind. Obwohl die CUP öffentlich weiter die Revolte beschwört und den einzigen Weg zur Unabhängigkeit in einer revolutionären Neugründung sieht, hielt sich die Partei in der Parlamentssitzung am 1. März zurück. In der Erklärung, auf die sich alle Unabhängigkeitsparteien einigten, wurde davon abgesehen, die Unabhängigkeitserklärung vom 27. Oktober zu ratifizieren.
Kein Grund, nicht anderweitig in Streit zu geraten. Noch am Abend des 1. März hat Carles Puigdemont per Videobotschaft verkündet, er verzichte auf das Präsidentenamt. Jordi Sánchez sei der ideale Kandidat, teilte er mit. Allerdings wird der Präsident des Unabhängigkeitsvereins ANC und Spitzenkandidat der Puigdemont-Liste sein Amt kaum antreten können. Seit Mitte Oktober sitzt er wegen Anstiftung zum Aufstand in Haft. Käme er auf freien Fuß, wäre Sánchez für viele der richtige Bewerber: ein Aktivist ohne Parteizugehörigkeit, vorsichtig und strategisch. Aus dem Gefängnis heraus gab er den Rat, keine unilaterale Unabhängigkeitserklärung abzugeben – dafür sei die Zeit noch nicht reif. Natürlich widerstreben solche Positionen der CUP, die daran festhält: Puigdemont, nicht Sánchez, sei ihr einziger Kandidat. Auch die ERC äußert sich in der Öffentlichkeit skeptisch, dürfte sich aber mit Sánchez anfreunden, den sie als Symbolfigur respektiert. Sánchez könnte der Unabhängigkeitsbewegung neuen Schwung geben und würde es der ERC erlauben, mit einer starken Vizepräsidentschaft de facto die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.
Senioren demonstrieren
Derweil wird auf der Straße aus ganz anderen Gründen mobilisiert. Seit Wochen verlangen kämpferische Senioren mit Demonstrationen überall eine Erhöhung ihrer kleinen Renten. Parallel dazu sorgten die Vorbereitungen für den Generalstreik anlässlich des Weltfrauentages am 8. März für Debatten über Feminismus, Lohnungleichheit und Gewalt gegen Frauen. Es ist ein Diskurs, wie ihn das Land in diesem Ausmaß bislang nicht kannte. Die konservative Zentralregierung begegnet den Protesten auffallend nervös, bar jener kühlen Härte, auf die sie gegenüber katalanischem Separatismus achtet. Gegen die Katalanen lässt sich bequem regieren, aber gegen Frauen und Senioren, diesen potenziellen Wählern? Kataloniens Unabhängigkeitsparteien würde es helfen, den schlichten Slogan des feministischen Streiks zu übernehmen: Gemeinsam sind wir mehr!
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