Ganz nah dran ...

CoLyrik Spurenlese im Frühling kann zur Herausforderung werden ...

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Spurenlese

Ich war ihm auf der Spur. Ganz nah dran am Geschehen und hätte ihn beinahe gesehen.

Die Sonne schien. Überall blauer Himmel soweit das Auge sah und dann flog im Sturzflug ein Strauchvogel an mir vorbei, so dachte ich zunächst. Es war ein Zaunkönig, so ein possierliches Tierchen, das man aus Büchern kennt. Nein! Wahrscheinlich auch nicht. Es war auf jeden Fall ein Vogel. Ein ganz kleiner Vogel mit grünen Federn. Ich bin mir ganz sicher. Danach entdeckte ich einen Specht, einen typischen Buntspecht. Da bin ich mir sehr sicher. Ich kenn‘ mich mit Vögeln aus. Schluckspechte sehen total anders aus. Der machte vielleicht einen Krach im Revier. Ein Buchfink flog ganz dicht an mir vorbei, also wolle er mir zuzwitschern und mir damit ins Ohr flüstern, dass ich ganz nah dran bin. Dort wo es jetzt noch matschig ist, weil es zuvor geregnet hatte. Das Moos quietscht unter den Füßen, wenn man darüber läuft und dies tat es dann auch. Danach sah ich sein Werk, seine tägliche Arbeit und es raschelte verdächtig am Ufer, als hätte ich ihn aufgeschreckt. Ich war ihm wirklich auf der Spur. Ich schwöre, wollte ein Beweisfoto machen. Blitzschnell musste ich das Weite suchen, sprang mindestens hinter drei Buchen und schüttelte mich wie irre. Nach Hilfe schrie ich nicht, blieb innerlich nur dezent hysterisch. Was war passiert? In der Nähe des Geschehens hausten Waldameisen, die ihr Nest verließen, um an meinen Beinen hochzukrabbeln, da verließ ich in Windeseile seine Arbeitsstätte. Die Ameisen waren wie in einem Horrorfilm überall. Es war richtig gruslig, so angsteinflößend und doch behielt ich die Nerven. Ich kann das wirklich. Manchmal wachse ich über mich hinaus, so mein Bauchgefühl.

Ich hatte keine Zeit mehr, um ein Foto zu machen, lief quer durch die Botanik, als würde ich von einem Haufen wildgewordener Krieger gejagt.

Jetzt war ich die Gejagte – das plötzliche Opfer. Ich spürte schon dieses tierische Brennen, als würde ich jetzt für immer …

… irgendwo in einem Waldstück mit vielen Seen wie aus heiterem Himmel sterben, weil Tausende von Waldameisen …

Alles nur hyperchondermäßiges Getue. Die allerletzte Ameise schnipste ich von meiner Socke und danach ginge es mir wirklich gut. Drei Wildgänse watschelten an mir vorbei, als wäre ich mit dem Morast unter meinen Füßen verwurzelt. Einen Moment lang verharrte ich, als wäre ich ein abgestorbener Baumstumpf. Danach schlich ich ganz leise über Trampelpfade quer durch den Wald und sah immer wieder aufs Neue seine Existenz. Hier, da wo ich ab und zu auf der Suche nach ihm bin, zwischen all den kleineren Seen und Tümpeln treibt er sich tatsächlich herum. Angst habe ich keine vor ihm. Er tut mir nichts. Da bin ich mir ganz sicher.

© Corina Wagner, April 2013

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Bild: © T.W.

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Geschrieben von

Corina Wagner

Wer das Wort Alphabet buchstabieren kann, ist noch kein/e Autor/in. (C.W.)

Corina Wagner