Land außer Sicht

Aufgabe 2018 Wir freuen uns, wenn in einem Dorf ein Café eröffnet. Starke Politik gegen schwache Strukturen ist das noch nicht
Ausgabe 01/2018
Gut gemeint: Durch Appelle lässt sich die Landflucht nicht aufhalten
Gut gemeint: Durch Appelle lässt sich die Landflucht nicht aufhalten

Foto: Imago

Die Weihnachtsansprache des Bundespräsidenten hatte ein überraschendes und gutes Thema: strukturschwache Gebiete. Orte im Land, die Gefahr laufen, abgehängt zu werden. Frank Walter Steinmeier spricht von Ohnmacht, Entfremdung und Angst, und davon, was man dagegen tun kann. Der Ton der Rede ist zuversichtlich, an Eigeninitiative und zivilgesellschaftliche Verantwortung wird appelliert. Steinmeier spricht seine Bewunderung für eine Gemeinde in Ostdeutschland aus, die den zurückweichenden Strukturen getrotzt und ein Kino, ein Café, einen Spielplatz errichtet hat. Sicher, ein Bundespräsident muss so reden. Aber sind seine Empfehlungen nicht eher Teil des Problems, nämlich der sukzessiven Liquidierung des Gesellschaftlichen? Bewirkt sein individualistischer Ansatz nicht sogar das Gegenteil von dem, was er unausgesprochen verhindern will: die Betroffenen weiter in die Arme der Populisten zu treiben?

Wo gesellschaftliche Strukturen nicht funktionieren, wo Menschen in soziale Notlagen geraten, erschallt in liberalen Gesellschaften reflexhaft der Ruf nach zivilem Engagement, nach Subsidiarität und Eigenverantwortung. Zumeist wird Eigeninitiative dort am lautesten eingefordert, wo in Wirklichkeit gar nicht gestaltet werden kann.

Wenn wir alle paar Jahre oder sogar Monate einen neuen prekären Job suchen müssen, heißt es, wir hätten die Chance auf kreative Selbstentfaltung; wenn wir für die Bildung unserer Kinder zahlen und die eigene Alters- und Gesundheitsversorgung selbst in die Hand nehmen müssen, wird uns zu verstehen gegeben, dass wir nun „Selbstunternehmer“ seien, die frei wählen könnten, wie sie ihre Ressourcen einsetzen. Und wo, wie in den schrumpfenden Regionen Ostdeutschlands, unsere gesellschaftliche Existenz gefährdet ist, sollen wir uns fit für die Zukunft machen. Wo wir Entscheidungen treffen müssen, für die wir nicht qualifiziert sind, erleben wir unsere Freiheit als beängstigend. So wird es verständlich, wenn einige nur allzu bereit sind, die falsche Freiheit der liberalen Demokratie gegen den Autoritarismus von rechts einzutauschen.

Die anhaltende Landflucht oder die Abwanderung der „Intelligenz“ lassen sich nicht einfach durch Bürgerinitiativen kurieren. Der Solidarpakt konnte nicht verhindern, dass das Einkommens- und Wohlstandsgefälle zwischen den städtischen und den altindustriell geprägten ländlichen Regionen in Deutschland in den letzten 20 Jahren größer und nicht etwa kleiner geworden ist. Steuereinnahmen fallen in strukturschwachen Regionen zudem meist deutlich geringer aus, so dass diese nur unterdurchschnittlich zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben beitragen können.

Der Appell an Eigeninitiative und Eigenverantwortung birgt aber noch eine weitere Gefahr. Er kann bei den Betroffenen das Gefühl verstärken, die gesamte gesellschaftliche Ordnung sei in Auflösung begriffen, das größere „Wir“, zu dem die Person gehört, zerfalle. Nach Angaben im „Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2017“ ist die Bevölkerung in den ostdeutschen Flächenländern um 15 Prozent, in Sachsen-Anhalt sogar um 22 Prozent zurückgegangen, und laut Prognosen wird die Bevölkerung bis 2050 weiter schrumpfen. Angst vor „ethnischem Verschwinden“ lässt sich in vielen Regionen erkennen. Aus Sicht der Bewohner, insbesondere der Älteren, verstärken die Ankunft von Migranten und das beliebte Argument, ein alterndes Europa sei auf Zuwanderung angewiesen, nur die Befürchtung, die eigene Welt könnte verschwinden. Diese Ängste lassen sich nur verstehen, wenn man begreift, dass Gesellschaft im Gefühl ihrer Mitglieder einen Schutzschild gegen die eigene Sterblichkeit darstellt. Der Einzelne stirbt, aber die Nation, so die tröstliche Vorstellung, bleibt erhalten und setzt sich in der Zukunft fort. Der Soziologe Émile Durkheim erkannte in der Vorstellung eines Kollektivs als übergeordneter Instanz die allgemeinste Idee von Gesellschaft überhaupt.

Wenn aber nun selbst die offizielle Politik die Idee der Gesellschaft fallenlässt, leistet sie dem Gefühl des kollektiven Verschwindens in den von niedrigen Geburtenraten, Überalterung und Migration heimgesuchten Regionen noch weiter Vorschub. Dies hat auch damit zu tun, dass die Politik der letzten drei Jahrzehnte politische Fragen den Ökonomen und Technokraten überlassen hat, die mit blutleeren Begriffen wie „Strukturwandel“, „Wettbewerbsfähigkeit“ und „Innovationsvorteil“ operieren und die Idee einer Gesellschaft, für die man gemeinschaftlich Verantwortung trägt, obsolet erscheinen lassen. Und wo der Markt versagt, sollen dann die Individuen selbst in die Bresche springen und als „Selbstunternehmer“ oder in Bürgerinitiativen fehlende gesellschaftliche Strukturen ersetzen.

Ganz anders die Populisten. Mit großer Entschlossenheit besetzen sie Begriffe wie Volk, Bürger, Macht und Regieren. Um Einfluss auf die Wünsche und Fantasien der Menschen zu nehmen, darf eine Demokratie die Gestaltung von Gesellschaft nicht allein dem Markt überlassen und muss sich das Politische zurückholen.

Cornelia Koppetsch lehrt Soziologie an der TU Darmstadt

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