Eine Ferndiagnose, sagt der Duden, ist eine „Beurteilung, zu der jemand gelangt, ohne sich unmittelbar mit einem bestimmten Untersuchungsgegenstand oder Sachverhalt zu befassen“. Das kommt einem in den Sinn, wenn man sich die in Städten gängige Betitelung von AfD-Wählern anhört: Arbeitslose Dorftrottel seien das, Landeier, denen in ihren Käffern so langweilig sei, dass sie ohne Feindbild nicht können. Eine Verurteilung der „Anderen“, basierend auf Stereotypen und eben nicht auf persönlichen Begegnungen. Wer ist schuld an den 12,6 Prozent für die AfD bei den Wahlen zum Bundestag? Die Stadt sagt: Die Provinz war’s; der Westen beschuldigt den ländlichen Osten.
Eine jüngst erschienene Studie meint: Diese Form von Ferndiagnose ist der größte Fehler der kriselnden Volksparteien. Missstände werden aus komfortabler Distanz beobachtet und mit uninspirierten Lösungsvorschlägen bedacht. Was in dünn besiedelten Regionen mit Ärztemangel mitunter medizinischer Pragmatismus ist – die Feststellung von Krankheitsbildern anhand aus der Ferne geschilderter Symptome –, wird so zum Regierungsprinzip. Rückkehr zu den politisch Verlassenen heißt deshalb der Forschungsbericht, den Johannes Hillje von der Berliner Denkfabrik „Das Progressive Zentrum“ im März veröffentlicht hat.
Oberhausen ist auch peripher
Hilljes Prämisse ist, dass individuelle Erkenntnisse über Bürger in AfD-Hochburgen nur vor Ort gewonnen werden können. In sozial und wirtschaftlich benachteiligten Regionen mit hohen AfD-Anteilen führten er und sein Team vor der Bundestagswahl 250 Haustürgespräche. Die Befragten mussten dabei nicht ihre Parteipräferenz angeben, sondern wurden schlicht gebeten, über ihre Alltagssorgen zu sprechen. Wo viel AfD gewählt wird, so die Logik, geht es nicht nur AfD-Wählern schlecht. Das Fazit: Der Rechtspopulismus erstarkt an diesen Orten nicht etwa, weil die Menschen dort von Natur aus fremdenfeindlich wären, sondern weil die Politik die Infrastruktur in ihrer Region im Stich gelassen hat.
Hillje warnt davor, „strukturschwach“ vollends mit „ländlich“ gleichzusetzen. Zwar sei gerade im Norden und in den neuen Bundesländern eine solche Tendenz vorhanden. Aber auch Städte wie Oberhausen und Frankfurt/Oder würden in die Kategorie gehören. Freilich trifft es auch hier die Peripherie am härtesten. Eine Frau aus Gelsenkirchen-Ost beklagt in der Studie, dass vor Kurzem der letzte für sie zu Fuß erreichbare Briefkasten abmontiert worden sei. Auch die „Busverbindungen sind sehr schlecht, unter der Woche kommt der nur einmal pro Stunde, am Samstag kommt man nach 15 Uhr gar nicht mehr weg.“ So wird das Warten auf die etablierten Parteien in vernachlässigten Regionen zum Warten auf Godot. Die AfD erzielte in Gelsenkirchen-Ost fast 27 Prozent.
Aufschlussreich ist, dass sich Menschen in dünn besiedelten Räumen auf die Frage nach ihrem eigenen Alltag an erster Stelle über die mangelhafte Verkehrsinfrastruktur beschweren und nicht, wie es das Stereotyp will, über die Migration. Hillje schließt daraus, dass auf privater Ebene Fremdenfeindlichkeit keineswegs auf intrinsischem Rassismus beruhe, sondern auf eigens erfahrenen Benachteiligungen – „einem persönlichen Entwertungsgefühl“, das sich in der Herabwertung anderer entlade.
Gerade in der städtischen Peripherie und auf dem Land, wo die Infrastruktur oft leidet, muss die Politik daher ansetzen. Der hauptstadtlastige Diskurs mag zwar das Gefühl vermitteln, Deutschland sei ein vorwiegend urbanes Land. Laut den jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamts leben aber beinahe zwei Drittel der Deutschen in nur gering oder mitteldicht besiedelten Regionen – und fühlen sich häufig von der Regierung vernachlässigt. Hillje sieht das Problem in der schwachen Parteipräsenz: „Parteien sind auf lokaler Ebene oftmals nur noch dort mit einem Büro vertreten, wo sie für den Wahlkreis einen Abgeordneten stellen“. Weitergedacht heiße das: „Wo kein Ortsverband, da kein Besuch von Politikern.“
Mangel als Chance
Ein kürzlich veröffentlichter Bericht des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung bekräftigt diesen Eindruck. Die Politik müsse ihr Augenmerk dringend auf ländliche Räume legen, so die DIW-Forscher, die neben Strukturschwäche und Überalterung von Regionen weitere Faktoren für den Rechtsruck ins Feld führen: In Ostdeutschland etwa häuften sich für die Erstarkung der Rechten günstige Umstände wie die hohe Anzahl handwerklicher und prekärer Arbeitsplätze und eine empfundene Perspektivlosigkeit, insbesondere unter Jugendlichen.
So erklärt sich womöglich auch, dass die Rechtspopulisten die CDU bei der vergangenen Bundestagswahl in Sachsen als stärkste Partei ablösten. Statistisch gesehen ist der Freistaat aber das urbanste unter den neuen Bundesländern: 39 Prozent der Bevölkerung leben in dichten Siedlungsgebieten. Das Problem ist hier wohl weniger eine mangelhafte Infrastruktur, als vielmehr die beschriebene Prekarität.
Eigentlich bieten diese Analysen den Parteien eine Chance: Wo Mangel herrscht, kann die Politik Abhilfe schaffen. Die Menschen in den vergessenen Räumen jedoch haben ihre Hoffnung verloren, von den Volksparteien abgeholt zu werden. Davon, so Hillje, profitiere die AfD jetzt wie seinerzeit schon die NPD, die in der brandenburgischen und sächsischen Provinz mit regelmäßigen Bürgersprechstunden zur „Kümmererpartei“ avanciert sei: „Gerade die sich als Volksparteien definierenden Parteien müssen in diese Räume zurückkehren. Nur so kann buchstäblich politisches Gelände zurückgewonnen werden.“ Mit Ferndiagnosen wird man also nicht weit kommen – es hilft nur ein Aufbruch zu den Zurückgelassenen. In Berlin fahren die Busse ja oft genug.
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