Wenn es um Einwanderung geht, sind die Deutschen hin- und hergerissen. Einerseits wissen sie, dass sie Einwanderer brauchen. Als wirtschaftsstarkes Land in der Mitte Europas, aber mit einer alternden Bevölkerung, ist Deutschland auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen, um seinen Wohlstand zu halten. Das predigen nicht nur die Wirtschaftsverbände, die Unternehmen und die Industrie. Man sieht es mit bloßem Auge, wenn man sich in Krankenhäusern und Pflegeheimen, in der Gastronomie oder auf Baustellen umsieht.
Viele Branchen würden ohne Einwanderer zusammenbrechen. Da die Babyboomer jetzt ins Rentenalter kommen und heute weniger Kinder geboren werden, müssen künftig immer weniger Arbeitnehmer für immer mehr Ältere aufkommen. Ohne Einwanderu
Einwanderung lässt sich das Sozialsystem in Zukunft nicht finanzieren. Dieser Aspekt steht den meisten Politikern deutlich vor Augen.Hier will die Große Koalition nun ansetzen. Angela Merkel hat ein entsprechendes Gesetz zum „zentralen Projekt“ erklärt. Noch in diesem Jahr, wenn die Regierung denn durchhält, will das Kabinett einen Entwurf beschließen. Ziel sei ein einfaches, klares und verständliches Regelwerk, das Deutschland für qualifizierte Arbeitnehmer aus Nicht-EU-Staaten attraktiver machen solle, so die Kanzlerin. Noch immer jedoch spiegelt sich der Grundsatzstreit um die Frage, ob sich Deutschland als Einwanderungsland versteht, in den Begrifflichkeiten der Parteien wider. Während die SPD von einem „Einwanderungsgesetz“ spricht, wollte sich die Union lange allenfalls auf ein „Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz“ einlassen. Als Kompromiss ist nun von einem „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“ die Rede. Immerhin.Vielfalt in den StädtenViele Deutsche versperren sich gegen weitere Einwanderung, oder sie empfinden sie rasch als zu viel. Hat man nicht gerade erst eine Million Flüchtlinge aufgenommen? Wird sich Deutschland dadurch nicht bis zur Unkenntlichkeit verändern? Solche Ängste werden durch Bestsellerautoren wie Thilo Sarrazin und durch die AfD befördert. In Kleinstädten und auf dem Land sind diese Befürchtungen weiter verbreitet als in Großstädten, in denen man die Vielfalt der Lebensstile schon länger gewohnt ist. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) ventiliert diese Ängste, wenn er sagt, die Migration sei „die Mutter aller Probleme“. Ausgerechnet dieser Innenminister hat nun die Eckpunkte für ein Einwanderungsgesetz vorgelegt, wie es sich Union und SPD im Februar in ihrem Koalitionsvertrag vorgenommen hatten.In der Debatte um ein Zuwanderungsgesetz geht es viel um Symbolik. Denn Deutschland ist schon lange ein Einwanderungsland, auch wenn das Wort manchen konservativen Politikern immer noch schwer über die Lippen geht. Fast ein Viertel der Menschen, die hier leben, hat einen sogenannten Migrationshintergrund – das heißt, er selbst oder zumindest ein Elternteil besaß bei der Geburt eine ausländische Staatsbürgerschaft. Das hat erst kürzlich der jüngste Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes ergeben, der Ende Juli veröffentlicht wurde.Wie vielfältig Deutschland heute ist, das zeigt sich insbesondere in den Innenstädten der westdeutschen Metropolen. In Großstädten wie Frankfurt am Main, Stuttgart, Düsseldorf und München weist fast jeder Zweite, in Berlin jeder Dritte statistisch gesehen einen Migrationshintergrund auf, unter Kindern und Jugendlichen ist der Anteil sogar noch höher. In Ostdeutschland und in ländlichen Gebieten macht sich der demografische Wandel dagegen erst langsam bemerkbar. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum hier die Widerstände gegen diese Entwicklung und die Sorge um den Verlust des Vertrauten am größten sind.Die größte Einwanderergruppe stellen Menschen, die aus anderen EU-Staaten nach Deutschland gezogen sind. Die meisten von ihnen kamen in den letzten 20 Jahren aus Nachbarländern und neuen EU-Mitgliedstaaten wie Polen, Rumänien, Bulgarien und Kroatien, aber auch aus Italien, Griechenland und Spanien. Denn die Freizügigkeit erlaubt es Arbeitnehmern, in einem EU-Land ihrer Wahl einen Job anzunehmen. Wegen der Lage auf dem Arbeitsmarkt sind viele Menschen in den letzten Jahren aus anderen Ländern der EU nach Deutschland gezogen, nach dem Krisenbeginn 2008 gerade auch aus den von der Euro-Krise am härtesten getroffenen Ländern des Südens. Selbst im Jahr der „Flüchtlingskrise“, 2015, kamen mehr Menschen aus einem anderen EU-Staat nach Deutschland, als zur gleichen Zeit Asyl beantragten.Auch für Akademiker aus aller Welt gelten schon jetzt relativ liberale Regeln für die Einwanderung. „Die hiesigen Zuwanderungsregelungen für hoch qualifizierte Fachkräfte gehören zu den liberalsten weltweit“, schreibt der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration in seinem letzten Jahresgutachten 2018 sogar. So können Akademiker bis zu sechs Monate in Deutschland bleiben, um auf eigene Faust nach einem Job zu suchen. Auf diesem Feld sieht das Expertengremium kaum Nachholbedarf.Seit 2012 gibt es außerdem die „Blaue Karte“ der EU für hoch qualifizierte Fachkräfte. Hochschulabsolventen können sie beantragen, wenn sie einen Arbeitsvertrag und ein Mindestgehalt vorweisen können. Vor allem Kandidaten aus Indien, China und Russland sind mit so einer „Blauen Karte“ eingereist. Sie arbeiten häufig in „MINT“-Berufen, also in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Denn Ingenieure und IT-Fachkräfte werden vielerorts händeringend gesucht.Personalmangel besteht auch in anderen Branchen: im Pflegebereich, auf dem Bau und in der Gastronomie. Die Bundesagentur für Arbeit führt eine Liste, auf der 61 „Mangelberufe“ stehen. Darauf stehen nicht nur IT-Experten, sondern auch Kranken- und Altenpfleger, Mechatroniker und Lokführer, Fliesenleger und Sanitärtechniker. Wer in einem dieser „Mangelberufe“ tätig ist, darf schon jetzt nach Deutschland kommen, sofern er einen Arbeitsvertrag nachweisen kann.Zermürbend lange WartezeitenDie Bundesregierung will den Begriff der Fachkräfte weiter auslegen als bisher. Nicht um Hochschulabsolventen, sondern um Einwanderer mit abgeschlossener Berufsausbildung geht es dabei. Künftig sollen auch sie für sechs Monate einreisen dürfen, um einen Job zu suchen. Voraussetzung ist, dass sie einen anerkannten Berufsabschluss und grundlegende Deutschkenntnisse mitbringen und selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können. Klar ist auch, dass die Vorrangprüfung fallen soll. Nur in Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit sollen Landesregierungen an der Regelung festhalten dürfen, wonach ein gleich qualifizierter, einheimischer Bewerber ein Vorrecht auf den offenen Arbeitsplatz hat.Als Vorbild soll die Sonderregelung dienen, die 2014 für die Staaten des westlichen Balkans eingeführt wurde. Diese wurden damals zu „sicheren Herkunftsstaaten“ erklärt. Asylanträge von Bürgern aus diesen Ländern haben seitdem kaum noch eine Chance auf Erfolg. Im Gegenzug wurden die Hürden für die legale Arbeitsmigration gesenkt. Wer von einem Arbeitgeber ein verbindliches Arbeitsangebot vorweist, der kann eine Aufenthaltserlaubnis erhalten. Leiharbeit ist davon ausgenommen. Die Nachfrage ist groß, über 37.000 Arbeitsvisa wurden 2017 für Bewerber aus den Ländern des westlichen Balkans wie Albanien, Bosnien und Serbien erteilt, mehr als doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Zermürbend lange Wartezeiten sorgen aber dafür, dass nicht alle Bewerber zum Zuge kommen.Die CSU lenkt einAbgelehnte Asylbewerber, die aus humanitären Gründen in Deutschland bleiben dürfen, sollen eine Bleibeperspektive erhalten, wenn sie eine Arbeit oder einen Ausbildungsplatz gefunden und Deutsch gelernt haben. Diesen „Spurwechsel“ von Asylbewerbern hat die SPD gefordert, auch liberale CDU-Politiker wie Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther haben ihn unterstützt. Die CSU lehnte ihn lange ab. Lieber ließ sie in Bayern selbst gut integrierte Afghanen, die einen Ausbildungsplatz gefunden und Deutsch gelernt haben, wieder in ihr Herkunftsland abschieben. Alles andere, so glaubte sie, könnte für andere einen Anreiz bieten, sich auf illegalem Weg nach Deutschland zu begeben. Doch am Ende hat die CSU nachgegeben.Das neue Gesetz soll effizienter werden als die aktuellen Regelungen. Bisher sind die 600 kommunalen Ausländerbehörden dafür zuständig, Aufenthaltstitel zu vergeben. In Zukunft sollen die Visa-Abteilungen im Ausland, die Stellen für die Anerkennung beruflicher Qualifikation und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Bundesagentur für Arbeit und die Ausländerbehörden enger miteinander verzahnt werden, heißt es im Eckpunktepapier der zuständigen Ministerien.Künftig soll zudem eine „Clearingstelle“ ausländischen Bewerbern helfen, den Weg durch den Paragrafendschungel zu finden und ihre Abschlüsse hierzulande anerkennen zu lassen. Der „Gleichwertigkeitsnachweis“ ist für viele die größte Hürde. Demnach müssen Fachkräfte belegen, dass ihre Berufsausbildung deutschen Standards entspricht. Da die Ausbildungssysteme in vielen Ländern nicht mit dem deutschen vergleichbar sind, ist das oft schwierig. Die Bundesagentur für Arbeit muss außerdem eine „Arbeitsmarktprüfung“ vornehmen, bevor eine Stelle an einen ausländischen Bewerber vergeben wird.Dafür muss sie nicht nur prüfen, ob andere Arbeitnehmer Vorrang auf die Stelle hätten. Sie muss auch darauf achten, dass ausländische Bewerber nicht zu schlechteren Bedingungen eingestellt werden als einheimische. Die Vorkehrung soll verhindern, dass ausländische Arbeitskräfte zu Dumpinglöhnen ausgebeutet werden.Zwar ist Deutschland ein Magnet für die Arbeitsmigration geworden, und es hat im Vergleich zu anderen EU-Staaten deutlich an Attraktivität gewonnen. Es kann längst mit europäischen Einwanderungsländern wie Großbritannien und Frankreich mithalten. Aber es gibt noch Luft nach oben. Das Münchener Online-Netzwerk „InterNations“ hat kürzlich 18.000 Menschen, die im Ausland leben und arbeiten, im Rahmen einer Studie zu Faktoren wie Lebensqualität, Arbeitswelt und Eingewöhnung im Gastland befragt.Dabei stellte sich heraus, dass zwei Drittel der ausländischen Fachkräfte, die in Deutschland leben, mit der deutschen Sprache hadern. Mehr als der Hälfte fällt es schwer, hierzulande einheimische Freunde zu finden. Und einer von drei „Expats“ bekannte, er habe Schwierigkeiten, sich an die deutsche Kultur zu gewöhnen. Nicht jeder bezeichnete die Haltung der einheimischen Bevölkerung gegenüber Ausländern als freundlich. Ein Einwanderungsgesetz wäre in dieser Hinsicht ein Zeichen, dass Deutschland sich als Einwanderungsland versteht – und es würde den Abschied von sehr alten Lebenslügen bedeuten.Placeholder authorbio-1
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