Oft krank, ständig überarbeitet, früherer Tod: Als die SPD vor 130 Jahren in ihrem „Erfurter Programm“ die Forderung nach einem Verbot von Nachtarbeit aufstellte, basierte dies noch auf reinen sozialen Beobachtungen. Erst in den vergangenen Jahrzehnten konnten die schädlichen Auswirkungen nächtlichen Arbeitens auf die Gesundheit auch wissenschaftlich belegt werden. Verschwunden ist in der Zwischenzeit jedoch die Idee von ihrem Verbot. In den rauen Gewässern des globalen Konkurrenzkampfes wurde diese Urforderung der Arbeiterbewegung, die sich schon 1871 im ersten Dekret der Pariser Kommune fand, klammheimlich über Bord geworfen. Ist Nachtarbeit denn weniger geworden? Oder ungefährlicher? Oder: notwendiger?
Erst 2017 erhielten drei US-amerikanische Forscher für ihre Entdeckungen zur Funktionsweise der „inneren Uhr“, der sogenannten circadianen Rhythmik, den Nobelpreis für Medizin. Zehn Jahre zuvor hatte die WHO Nachtarbeit als „wahrscheinlich krebserregend“ eingestuft, was sie 2019 erneut bestätigte. Zweifelsfrei bewiesen ist ein medizinischer Zusammenhang damit nicht, er bleibt lediglich naheliegend. Eine Studie aus dem Jahr 2015 mit über 70.000 Krankenpflegerinnen kam etwa zu dem Ergebnis, dass regelmäßige Nachtschichtarbeit das allgemeine Sterblichkeitsrisiko auch unter Berücksichtigung anderer Risikofaktoren wie Alkoholkonsum, hohes Alter, Rauchen, wenig Bewegung oder Übergewicht um elf Prozent erhöht. Eine US-amerikanische Studie von 2018 mit 270.000 Teilnehmern fand heraus, dass Nachtschichtarbeit das Risiko, an Diabetes Typ 2 zu erkranken, um 44 Prozent erhöht. Die britische Arbeitsschutzbehörde HSE geht nach verschiedenen Forschungen von einem um 40 Prozent höheren Risiko für Herzerkrankungen aus.
Wir wissen, dass Nachtarbeit negative Auswirkungen auf fast alle menschlichen Körperfunktionen hat, vom Schlaf über die Verdauung bis zum Herz-Kreislaufsystem. Der Umstand, dass sich manche Menschen subjektiv an die unnatürliche Arbeitszeit anpassen oder auch objektiv die Belastungen bis zu einem gewissen Grade besser verkraften, ändert nichts daran. Keine innere Uhr kann sich diesem Rhythmus anpassen. Regelmäßige Nachtarbeit ist eine Tortur für den menschlichen Körper.
Aber statt weniger müssen sich immer mehr Arbeitnehmer dieser Tortur unterziehen – mehr als drei Millionen Menschen müssen derzeit in Deutschland auch zu nächtlicher Stunde arbeiten. Von 1995 bis 2015 stieg der Anteil der Beschäftigten, die nachts arbeiten, von 7,6 Prozent auf 9,1 Prozent. Eine politische Interessenvertretung scheinen sie jedoch nicht zu haben. In keinem Programm der im Bundestag vertretenen Parteien zur Bundestagswahl kommt das Wort „Nachtarbeit“ überhaupt vor. Woran liegt das? Ist Nachtarbeit denn so selbstverständlich, so unumgänglich für unsere Gesellschaft?
Produktion, Handel, Logistik
Aufgrund einer sehr geringen Datenlage ist schwer zu erschließen, in welchen Gebieten Nachtarbeit zugenommen hat. Dass sie in einigen Bereichen, etwa in der Pflege, bei der Polizei oder Feuerwehr und teils auch in der Industrie notwendig ist, sei unbestritten. Bereits 1992 beobachtete jedoch Klaus Zwickel, der damalige Zweite Vorsitzende der IG Metall, dass Nachtarbeit gerade auch dort zunehme, wo sie nicht notwendig sei – also nicht nur an Maschinen, die nachts nicht einfach ausgeschaltet werden können. Der Mikrozensus zum Arbeitsmarkt 2019 zeigt, dass überwiegend Menschen in Ausbildungsberufen von Nachtarbeit betroffen sind – jene mit Hochschulabschluss stellen die Ausnahme dar. Nächtliches Arbeiten ist vor allem im verarbeitenden Gewerbe, in Handel und Logistik sowie im öffentlichen wie privaten Dienstleistungsbereich weit verbreitet. Wie notwendig sie ist, unterscheidet sich jedoch stark: Anders als in der Pflege ist Nachtarbeit bei der Warenproduktion oder beim derzeit stark zunehmenden Warentransport in der Versandbranche, wie etwa bei Amazon oder anderen Logistikunternehmen, zumindest fragwürdig.
Außerdem ist Nachtarbeit nicht gleich Nachtarbeit. Dort, wo sie aus technischen, kulturellen oder sozialen Gründen unumgänglich ist, kann ihre Schädlichkeit begrenzt werden: Maximal fünf Stunden pro Nacht, maximal zwei Tage die Woche bei anschließender dreitägiger Ruhe, maximal zwei Jahre regelmäßig bei anschließender dreijähriger Pause – es gäbe viele Instrumente, die die Gefährdung zumindest senken könnten. Aber nichts von alledem wird derzeit offensiv gefordert oder wenigstens breit diskutiert.
Jenseits der Frage gesellschaftlicher Notwendigkeit von Nachtarbeit gibt es noch einen ganz anderen Grund für Nachtarbeit: Das Kapital schläft nicht. Im ersten Band des Kapitals schrieb Karl Marx, dass „die Verlängerung des Arbeitstages über die Grenzen des natürlichen Tags in die Nacht hinein [...] den Vampyrdurst nach lebendigem Arbeitsblut“ nur annähernd stille. Mögen die mythischen Anleihen an dieser Stelle vielleicht befremdlich wirken, enthalten die Worte doch eine wichtige Wahrheit: Das Kapital strebt seinem Wesen entsprechend nach Vermehrung und interessiert sich dabei herzlich wenig für den „circadianen Rhythmus“ der mehrwerterzeugenden Arbeitskraft. Marktwirtschaftlich gesehen hat es beträchtliche Vorteile, Maschinen die ganze Nacht laufen zu lassen und Dienstleistungen pausenlos anbieten zu können. Das war zu Marx‘ Zeiten nicht anders als heute.
Tendiert die Wirtschaftsweise daher zur Anwendung von Nachtarbeit, braucht es zu ihrer Begrenzung eines aktiven gesetzlichen Eingriffs. Einen dahingehenden Vorstoß gab es 1984 von den damals noch recht jungen Grünen, die in ihrem Entwurf für ein neues Arbeitszeitgesetz unter anderem das Verbot von Nachtarbeit vorschlugen. Auch die SPD hat vier Jahre später in einem im Bundestag eingebrachten Gesetzesentwurf klargestellt, eine „weitere Ausbreitung der unphysiologischen Nachtarbeit [...] könnte der Gesetzgeber nicht verantworten“.
Nachdem das 1992 für verfassungs-, weil gleichheitswidrig erklärte Nachtarbeitsverbot für Frauen zwei Jahre später im neuen Arbeitszeitgesetz gestrichen und einer Ausweitung von Nachtarbeit damit Tür und Tor geöffnet wurde, konnte dies die SPD ab 1998 als Regierungspartei dann scheinbar doch verantworten. Im rot-grünen Plan, die deutsche Wirtschaft mittels Arbeitsmarktliberalisierungen wieder wettbewerbsfähig zu machen, hatte viel Neues Platz – Nachtarbeitsregulierung gehörte nicht dazu.
Auch für die Gewerkschaften verlor die Forderung an Priorität. Beschloss die IG Metall 1992 noch eine Kampagne gegen Nachtarbeit, ist es in der Folgezeit ruhig geworden um derartige Bemühungen. Es wird zwar durchaus auf die Schädlichkeit dieser Arbeitsform hingewiesen und an der Verbesserung der Rahmenbedingungen gearbeitet; Forderungen nach konsequenter Begrenzung oder gar einem Verbot sind kaum mehr zu finden.
Es bleibt die Frage: Warum machen die Beschäftigten das mit? Wie kommt es zu der paradoxen Situation, dass mit steigendem Wissen um die Schädlichkeit von Nachtarbeit die Anzahl an Arbeitnehmern, die solche leistet, zunimmt?
Ein Verbot wäre teuer
Derzeit sind mehr als 5.000 Klagen in Sachen Nachtarbeit beim höchsten deutschen Arbeitsgericht anhängig, es läuft sogar ein Vorlageverfahren an den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Denn für regelmäßige oder in Schichtarbeit geleistete Nachtarbeit ist in Deutschland ein Lohnzuschlag vorgesehen, der durchschnittlich 25 Prozent betragen muss, aber vorrangig von den Tarifvertragsparteien festgelegt werden kann. Natürlich dient der Zuschlag offiziell nicht als Beruhigungsmittel zur Inkaufnahme dieses Risikos oder gar als Anreiz, sondern soll die Belastungen ausgleichen. Doch ist er aus zweierlei Gründen problematisch: Zum einen wissen die meisten Beschäftigten überhaupt nicht, dass die Gegenleistung für den Zuverdienst ihre Lebenszeit ist, dass es eben nicht um Anstrengungen geht, die der eine besser wegsteckt als der andere, sondern um eine zweifellos gesundheitsschädigende Arbeitsform. Zum anderen können viele diesen Zuverdienst sehr gut gebrauchen – oder sind gar auf ihn angewiesen.
Dass ein solcher Druck auf Beschäftigte zur Gefährdung ihrer Gesundheit legal ist, sollte zu denken geben, erklärt aber, warum umgekehrt kein Druck von Nachtarbeitenden auf Parteien und Gewerkschaften ausgeht. So betreffen die unzähligen Verfahren, einschließlich der Vorlage an den EuGH, nicht etwa die grundsätzliche Legalität von Nachtarbeit, sondern Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen, wonach es für Dauernachtarbeit einen geringeren Zuschlag gibt als für unregelmäßig anfallende. Zu Recht machen die betroffenen Beschäftigten seit einem wegweisenden Urteil des Bundesarbeitsgerichts aus dem Jahr 2018 gerichtlich geltend, dass dies eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung darstellt.
Mit ebensolchem Recht fordern Nachtarbeitende auch das Ende der erst letztes Jahr höchstrichterlich bestätigten, verfassungsrechtlich aber äußerst problematischen Möglichkeit, den Zuschlag zu kürzen, sofern Nachtarbeit für die Tätigkeit unerlässlich ist. Ein Ende der seit Jahren zuverlässig die Gerichtsakten füllenden Auseinandersetzungen um den „richtigen“ Zuschlag ist ohne gesetzgeberische Aktivität nicht abzusehen. Der Blick auf das Wesentliche, möglichst wenige Arbeitnehmer einem möglichst geringen Gesundheitsrisiko auszusetzen, droht weiter auf der Strecke zu bleiben.
Freilich würde ein Verbot von Nachtarbeit, wo sie nicht notwendig ist, und strenge Regulierung dort, wo sie notwendig ist, mehr Personal erfordern und viel Geld kosten. In Zeiten von Personalnotstand im Gesundheitsbereich und verschärftem internationalen Wettbewerbsdruck könnte dies daher als unrealistisch abgetan werden. Erscheint aber das Notwendige als unrealistisch, sollte das nicht zumindest Anlass sein, die Notwendigkeit der Realität zu hinterfragen?
Um mit der SPD von 1988 zu fragen: Kann es politisch verantwortet werden, derzeit junge Menschen zu Tausenden für Berufe zu begeistern, deren aktuelle Rahmenbedingungen ihre Lebenserwartung um mehrere Jahre verringern werden? Kann es politisch verantwortet werden, dass ausschließlich aus wirtschaftlichen Gründen Beschäftigte dazu angehalten werden, ihre Gesundheit derart zu gefährden? Die SPD von 1891 wüsste die Antwort.
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