Der gegenwärtige Krieg ist eine einzige Katastrophe – für die ganze Welt, aber vor allem für die Ukraine. Wer immer darüber nachdenkt, fragt sich, wie dem geschundenen Land und seinen Menschen am wirksamsten zu helfen ist. Von Anfang an standen sich zwei diametrale Sichtweisen über die zweckmäßige Unterstützung gegenüber – Waffen oder Waffenstillstand. Das unbestrittene Recht auf bewaffnete Verteidigung gegen einen Angriffskrieg oder bestreitbare diplomatische Lösungen. Ein Kriegsende als „Siegfrieden“ nach opferreichen Kämpfen auf dem Schlachtfeld oder mit Blick auf die allseitigen Fehler in der Vorgeschichte sieglos, mit beidseitigen Kompromissen am Verhandlungstisch. Die gängige Polemik auf den Punkt geb
Daniela Dahn: Auch Sieger verlieren
Vorabdruck Die Publizistin Daniela Dahn plädiert in ihrem neuen Buch für einen unverstellten Blick auf den Ukraine-Konflikt und seine Vorgeschichte. Warum ist das so schwer?
gebracht, steht ein „naiver Pazifismus“ einem „skrupellosen Bellizismus“ gegenüber.„Deeskalation jetzt! Dem Schutz der Bevölkerung Vorrang einräumen!“ – ich gehöre zu den Unterzeichnerinnen des ersten offenen Briefes an Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der am 22. April in der Berliner Zeitung veröffentlicht wurde. Es ist legitim und legal, den Verteidigungskampf eines angegriffenen Landes mit Waffen zu unterstützen, aber was legitim und legal ist, muss noch nicht sinnvoll sein. Wir verurteilten den Überfall und zeigten uns besorgt, weil die Ukraine zum Schlachtfeld zwischen Nato und Russland geworden sei. Der gleichzeitig entfesselte Wirtschaftskrieg gefährde die Existenz vieler Menschen weltweit. Wenn die Eskalation nicht gestoppt würde, stünde womöglich am Ende der ganz große Krieg, der die menschliche Zivilisation verwüstet. „So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt auch ist, es ist die einzige realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg.“ Stopp aller Waffenlieferungen, die Augen links, für Waffenstillstand und Friedensverhandlungen.Unserem Brief folgten, mit differenzierten Argumenten und Forderungen, weitere, viel beachtete Briefe, auch Gegenbriefe.Für die frühe Position, wonach Waffenlieferungen den Krieg nur verlängern, wurden wir bestärkt und beschimpft wie wohl nie zuvor. Am direktesten angesprochen fühlte ich mich, wenn ukrainische Künstler sich empört an die Briefschreiber wandten mit Kommentaren, die hochverständlich sehr emotional waren, zum Teil auch mit verletzenden Unterstellungen argumentierten. Aber das Bedürfnis zu verletzen wächst eben in Kriegszeiten.So erreichten mich Fragen der Kunstplattform TU aus Mariupol, die an der documenta in Kassel teilnahm oder der offene Brief von Serhij Zhadan aus Charkiw, dem diesjährigen Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Wenn ich versuche, mich trotz eigener Unsicherheiten suchend diesen Fragen zu stellen, so in dem Bewusstsein, dass es mir nicht zusteht, Ratschläge zu geben, dass wir angesprochenen Briefschreiber aber auch keine zu ignorierende Minderheit mehr sind. Inzwischen sind immer mehr Deutsche davon überzeugt, dass Waffenlieferungen den Krieg nur ausweiten und verlängern, an der Wirksamkeit von Sanktionen zu zweifeln ist und es nur eine diplomatische Lösung geben kann. Dagegen steht der zentrale Vorwurf von Serhij Zhadan:„Die deutschen Intellektuellen, die der Ukraine westliche Waffen zur Verteidigung nicht zukommen lassen wollen und einen Waffenstillstand fordern, sprechen der Ukraine das Existenzrecht ab.“Wir betonen in unserem Brief, dass wir Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen sind, wir ringen in diesen Wochen um eigene Erklärungen – es versteht sich von selbst, dass ich hier nicht im Namen aller Briefschreiber antworte und schon gar nicht aller angesprochenen, „deutschen Intellektuellen“. Ich kenne allerdings niemanden, der der Ukraine das Existenzrecht abspricht.Was uns Briefschreiber eint, ist die Sorge „vor einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Welt“ und sehr absehbaren für die Ukraine selbst. Nach einem halben Kriegsjahr ist die Infrastruktur weitgehend zerstört, liegt die Wirtschaft am Boden, ist mehr als ein Drittel der „Werktätigen“ arbeitslos, ist das Land praktisch zahlungsunfähig. Hatte die große Ukraine schon vor dem Krieg nach dem kleinen Moldawien pro Kopf das niedrigste Bruttosozialprodukt in Europa, so ist ihre derzeitige Leistungsfähigkeit kein Garant für eine souveräne Existenz mehr. Sie wird auf Jahrzehnte hinaus von der Weltbank oder einem der geopolitischen Blöcke abhängig sein wie ein Protektorat. Erfolgten die westlichen Waffenlieferungen anfangs als kostenlose Militärhilfe, so muss die Ukraine nach dem Lend-Lease Act von 2022 dafür bei den USA längst Kredite aufnehmen, verschuldet sich und vertieft ihre Abhängigkeit.Wer Vorkriegsanalysen über die Ukraine kennt, gerade aus den USA, für den lässt sich das von den Medien gezeichnete Bild einer aufstrebenden Demokratie nach westlichem Vorbild kaum aufrechterhalten. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prangerte Präsident Wolodymyr Selenskyj als Führer einer korrupten Regierung an. Ein Bericht des US-Außenministeriums von 2020 präzisierte, sprach von schwerwiegenden Korruptionsfällen und strukturellen Gefahren; letztlich bestimmten sechs Milliardäre die Wirtschaft und damit die Politik. Es gebe große Verwerfungen im Sozialen, schlimmste Formen von Kinderarbeit; Millionen Wirtschaftsflüchtlinge hätten das Land lange vor dem Krieg verlassen und arbeiteten zu Niedrigstlöhnen in Westeuropa.Die Meinungsfreiheit hat es seit 2014 zunehmend schwerer, die Kommunistische Partei und regierungskritische Medien und Organisationen sind pauschal als „prorussisch“ ausgegrenzt und verboten worden. Wer den Bandera-Kult kritisiert, wird verfolgt. Ebenso, wer meint, die Krim gehöre zu Russland. Freie Diskussionen seien nicht selbstverständlich in der Ukraine. Bis zum Krieg war im Parlament immerhin die zweitgrößte Partei die „Oppositionsplattform für das Leben“. Dass sie wegen ihrer Nähe zu Russland nun auch verboten wurde, mag man verstehen. Hat aber dieses Verbot vielleicht den Weg dafür frei gemacht, dass das Parlament ausgerechnet jetzt das Gesetz zu einer „Arbeitsmarktreform“ verabschiedet, das schon ein Jahr vor dem Krieg von der Regierungspartei eingebracht wurde? Es zerstört alle Arbeitnehmerrechte besonders in Unternehmen mit weniger als 250 Mitarbeitern. In diesem „Feldzug gegen sowjetische Überbleibsel“ werden die Gewerkschaften entmachtet und enteignet, Tarifverträge ignoriert, die Arbeitszeit nach Belieben verlängert, Streiks und Demonstrationen verboten. Die Beschäftigten sollen ihre Beziehungen zu den Unternehmern selber regeln, wie üblich, wenn ein Staat frei, europäisch und marktorientiert ist.Der europäische Gewerkschaftsdachverband kritisierte im August in einem Schreiben an die Brüsseler Kommission scharf, dass die ukrainische Regierung mit dieser Reform gegen europäische und internationale Regeln verstößt und die Beschäftigten in einen Zweifrontenkrieg treibt – gegen die russische Armee und gegen die eigenen Oligarchen und Politiker. Und er bezweifelt, dass diese Maßnahmen, wie behauptet, nur für die Zeit des Kriegsrechtes gelten werden. In dieser angespannten Situation haben sich die Rada-Abgeordneten gerade einstimmig ihre Bezüge um 70 Prozent erhöht.Auch Grüne haben das Land, das sie nun zum Sieg führen wollen, schon kritischer gesehen. „Die demokratischen Institutionen in der Ukraine erleben eine schlimme Zeit“, warnte der Leiter der Kiewer Heinrich-Böll-Stiftung, Sergej Sumlenny, vor drei Jahren. Freunde aus Kiew bestätigen, dass der russische Überfall ein Riesengeschenk für die Ultrarechten in der Ukraine war. Aber worauf beruht dieser Nationalstolz? Das einzig Perfekte in diesem Krieg ist die Propaganda.2018 konnte ich in Moskau das Sacharow-Museum und die Nichtregierungsorganisation Memorial noch besuchen, was Anlass bot, mich zu fragen, ob ich zu nachsichtig mit der inneren Entwicklung in Russland gewesen bin. Die Mitarbeiter erzählten, sie bekämen kein Geld von russischen Behörden, stattdessen prüfe der Staat ihre Geldquellen, die aus dem Ausland stammen und von Crowdfunding. Noch behindere er nicht ihre Inhalte, sie hätten durch den großen Namen Andrej Sacharow einen gewissen Schutz, aber man habe Angst, dass sich das ändern werde. Inzwischen sind auch sie verboten, wird das Gesetz über „ausländische Agenten“ (ursprünglich übernommen von den USA und Israel) exzessiv instrumentalisiert zur Unterdrückung von Widerspruch. Andersdenkende und -lebende haben es extrem schwer, ob in Medien oder in der LGBTQ-Community, die Rolle von einflussreichen Oligarchen bleibt undurchsichtig, in der Duma kommt echte Opposition kaum vor, die Gewaltenteilung ist praktisch aufgehoben.Was aber die relativen Freiheiten in der politischen Praxis der Vorkriegsukraine betrifft, die zu verteidigen der Westen nun vorgibt, so wäre es wichtig, sie genauer zu analysieren, um denen widersprechen zu können, die meinen, das politische System der Ukraine sei nur der schwächere Abglanz des russischen gewesen. Das wäre für die Konkretisierung der Kriegsziele nicht ganz unwichtig. Freunde aus Kiew: „Unter dem Einfluss von Propaganda verstehen hier viele nicht, weshalb die Briefschreiber und andere Zweifler sich so schwer damit tun, in diesem ,unprovozierten Krieg‘ Partei zu ergreifen, weshalb sie von ,Hasardeuren auf beiden Seiten‘ sprechen.“Die Wendung „unprovozierter Krieg“ hätte nach meinem Ranking gute Chancen, zum Unwort des Jahres zu werden. Wenn dieser Krieg irgendetwas ist, dann seit vielen Jahren vom Westen provoziert. Um aus der großen Auswahl nur an einige Provokationen zu erinnern: 1999 der völkerrechtswidrige Bombenkrieg gegen Russlands Verbündeten Serbien; die wider alle Zusagen permanente Osterweiterung der Nato von 16 auf 28 Mitglieder; 2004 die Orangene Revolution in Kiew „nach Drehbuch“ der US-Organisation Freedom House und der Konrad-Adenauer-Stiftung zum Sturz des russlandfreundlichen Präsidenten, der bei den nächsten Wahlen aber wiedergewählt wurde; 2008 die Gipfelerklärung der Nato, in der der Ukraine und Georgien der Beitritt zur Allianz in Aussicht gestellt wird (Angela Merkel unlängst im Berliner Ensemble: Ich war sicher, dass Putin das nicht mitmacht, er wird es als Kriegserklärung auffassen); 2014 der Maidan-Putsch zum erneuten Sturz des Präsidenten; 2019 die Aufnahme des Ziels eines Nato-Beitritts in die ukrainische Verfassung, obwohl die Mehrheit der Ukrainer dagegen war; Nato-Manöver auf dem Boden des De-facto-Mitgliedes Ukraine; dauerhafte Präsenz von Nato-Truppen im Baltikum; einseitige Kündigung von Abrüstungskontrollverträgen; Inkonsequenz des Westens gegenüber der Ukraine, die hauptverantwortlich für das Nichteinhalten des Minsk-II-Abkommens war; Nichtachtung russischer Verhandlungsangebote. Fünf Tage vor dem russischen Angriff verlangte Präsident Wolodymyr Selenskyj auf der Münchner Sicherheitskonferenz einen klaren Zeitrahmen für den Nato-Beitritt und drohte, die Ukraine könne sich wieder eigene Atomwaffen anschaffen. Auch verschiedene Regierungen der Ukraine waren an den Provokationen beteiligt.Schon am Tag des Überfalls Russlands auf die Ukraine am 24. Februar gab US-Präsident Joe Biden im Gespräch mit Präsident Selenskyj das Wording vor: Dieser „unprovozierte Angriff“ sei die dunkelste Stunde seit dem Zweiten Weltkrieg. Am selben Tag nahm der britische Premierminister Boris Johnson auf Twitter die Wort-Order auf, mit ihm der belgische und der australische Regierungschef. Bald übernahm die Nato die Sprachregelung „unprovoziert“, auch in Deutschland ist sie üblich.Weshalb dieser Eifer im Leugnen des Offensichtlichen? Was würde es denn ändern, wenn man einräumt, dass dem Krieg Provokationen vorausgegangen sind? Keine Provokation rechtfertigt ein Verbrechen. In der Literatur zum Strafrecht heißt es etwas umständlicher: Auch eine noch so gravierende, rechtswidrige Provokation ändert nichts daran, dass sich der Angreifer durch seine aggressive Reaktion ins Unrecht setzt. Die Provokationen von Teilen der politischen Klasse im Westen ändern nichts daran, dass der russische Überfall auf die Ukraine völkerrechtlich verbrecherisch ist, politisch reaktionär, militärisch verheerend und menschlich katastrophal. Weshalb also der Eifer?Placeholder infobox-1
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