Der steile Pfad führt stundenlang durch den Nebelwald bergauf. Regenwolken hängen in den malerischen Bergen der Kondor-Kordillere, unten rauschen die grauen Fluten des Río Zamora. Nach fünf Stunden beschwerlichen Aufstiegs durch oft knietiefen Schlamm gelangt man endlich auf eine Lichtung, auf der ein paar schlichte Holzhäuser mit Wellblechdächern stehen. Das Dörfchen Tsuntsuim hat nur ein paar Dutzend Einwohner. Kinder rennen herum, Hühner gackern, ein Hund kläfft; ansonsten ist es ruhig.
Am 18. Dezember 2016 war es hier mit der Ruhe vorbei. Hunderte von Soldaten rückten aus dem Ort San Carlos an, wurden von Helikoptern im Tiefflug begleitet und hätten um sich geschossen, erzählen die Bewohner. Die flohen in Panik einen steilen Pfad hinunter, darunter schwangere Frauen und Kinder, sie umgab stockfinstere Nacht. „Als die Hubschrauber kamen, hatte die ganze Gemeinde Angst“, erinnert sich María mit stockender Stimme. Ihr kleines Holzhaus wird nur von Kerzen beleuchtet, zwei Kinder schauen neugierig, ein drittes schläft auf dem Boden. María ist Witwe: „Die anderen sind alle geflohen, aber ich wusste nicht, wohin. Auch mir befahl ein Offizier zu verschwinden. So habe ich meine drei Kinder auf dem steilen Weg hinter mir hergezogen und alles zurückgelassen: die Tiere, den Hausrat, meine Möbel. Davon haben die Soldaten nicht viel übrig gelassen.“
Die Regierung hatte am 14. Dezember den Ausnahmezustand für die gesamte Provinz ausgerufen, nachdem ein 20 Kilometer von Tsuntsuim entferntes Bergbaucamp angegriffen und dabei der Polizist José Mejía getötet wurde. Das Camp war bis zum letzten Sommer ein kleines Dorf der Shuar, der zweitgrößten indigenen Gemeinschaft Ecuadors, es hieß Nankints und lag im Tal zwischen der Straße nach Panantza und dem Fluss Zamora. Am Morgen des 11. August 2016 tauchten Bulldozer und 2.000 Polizisten und Soldaten in Nankints auf. Die acht dort lebenden Familien bekamen eine Stunde Zeit, um ihre Habseligkeiten einzupacken und ein paar Dollar für den Bus, der sie zu Verwandten in die Nachbarorte brachte. Ihre Häuser wurden durch Unterkünfte für Bauarbeiter, Soldaten und Polizisten ersetzt.
Kupfer für China
José Sanchim aus Nankints ist heute noch verzweifelt: „Wir sind nicht über diese Räumung informiert worden. Es hieß, sie würden uns umsiedeln und entschädigen, aber wir bekamen nichts. Jetzt sind wir völlig verarmt.“ In den Monaten nach der Räumung kam es mehrfach zu Zusammenstößen rund um das Camp, am 21. November wurde es von Aktivisten der Shuar kurzzeitig wiederbesetzt. Nach dem Tod des Polizisten am 14. Dezember machte die Regierung „bestimmte Mitglieder der Shuar“ für den Angriff verantwortlich. Der damalige Präsident Rafael Correa bezeichnete die Angreifer als „paramilitärische Gruppen“, ihr Anspruch auf Land sei eine Lüge. „Wir wollten unser Gebiet verteidigen“, sagt ein Shuar, der dabei war. Sie hätten zwar das Camp angegriffen, aber lediglich mit Steinen, Lanzen und Zwillen, vielleicht mit alten Jagdflinten. Sie besäßen keine großkalibrigen Waffen, mit denen der Polizist erschossen worden sein soll, beteuert er.
Die Regierung verhängte den Ausnahmezustand über die gesamte südöstliche Provinz Morona Santiago, das Militär besetzte mehrere Dörfer und verhaftete Dutzende Männer. Über 50 von ihnen wird gerade in der Hauptstadt Quito der Prozess gemacht, wegen Mordes oder Beihilfe zum Mord. Der Vorsitzende eines Shuar-Verbandes saß wegen Anstiftung in Untersuchungshaft, ein Radiosender wurde geschlossen, und der Umweltverband Acción Ecológica droht verboten zu werden.
Die Region rund um Nankints firmiert nun offiziell als Bergbauprojekt San Carlos-Panantza, nachdem die Regierung bereits 2012 über 41.000 Hektar an das chinesische Bergbauunternehmen Explorcobres S.A. (EXSA) verkauft hat. Das Joint Venture der chinesischen Staatsfirmen Tongling und CRCC will hier in den nächsten 25 Jahren hauptsächlich Kupfer abbauen. Was auf einen ersten Blick nach einer Win-win-Situation aussieht. Chinas Wirtschaft braucht Kupfer, Ecuador wiederum hat Geldsorgen – und während der Preis für Erdöl gesunken ist, stieg der für Kupfer im vergangenen Jahrzehnt um das Vierfache. Hinzu kommt, dass Ecuador seit 2008 versucht, seine Auslandsschulden mit Krediten aus China zu refinanzieren. 2009 wurde ein Bergbaugesetz erlassen, das die Kordilleren Ecuadors für Verpachtungen an Bergbaufirmen freigibt.
Hüter des Waldes
Beim Projekt San Carlos-Panantza sollen 60.000 Tonnen Erdreich abgebaggert werden, doch liegt der größte Teil der dafür in Betracht kommenden Fläche auf dem Gebiet der Shuar, die nach der ecuadorianischen Verfassung in jedem Fall zuvor um ihr Einverständnis ersucht werden müssen, was im Fall von Nankints unterblieb. Die Regierung stellt dazu fest, der Ort Nankints sei erst nach dem Verkauf erbaut worden und somit illegal. Tatsächlich wurde das kleine Dorf 2006 errichtet, doch sagen die Shuar, dies sei irrelevant, das Land sei ihr Land, seit Jahrhunderten schon.
„Privatbesitz“ verkünden knallrote Schilder, wenn man heute auf der löchrigen Landstraße am ehemaligen Nankints vorbeifährt; ein gut gesichertes Camp, das mit seinen Soldaten und Wachtürmen eher an ein Straflager erinnert. An einer Straßensperre kontrollieren bewaffnete Polizisten jedes Fahrzeug, Ausweise und Taschen. Das Camp heißt jetzt „La Esperanza“, die Hoffnung. „Nankints gibt es nicht mehr“, meint Mario, der mit in der Ranchera, dem traditionellen ecuadorianischen Bus sitzt. „Das Dorf war illegal“, zitiert er die offizielle Version. Mario erzählt, er habe für EXSA gearbeitet und wohne im nahe gelegenen Panantza. Das Unternehmen hat dort ein Informationsbüro, es ist geschlossen.
Zwei Monate lang war das Dorf Tsuntsuim vom Militär besetzt. Bis heute halten sich viele Männer aus diesem Ort in den Bergen versteckt, während die meisten Bewohner nach dem Abzug der Armee wieder zurückgekehrt sind. Sie fanden ihre Häuser zum Teil geplündert vor; Töpfe und Geschirr fehlten, Hühner und das Vieh waren verschwunden, in der kleinen Schule gab es keine Computer mehr. Jedenfalls haben sie jetzt in Tsuntsuim noch weniger als zuvor, ernähren sich von Reis und Kochbananen, manchmal etwas Fleisch. Die Kinder können nach Monaten wieder zur Schule gehen, haben aber kein Lernmaterial mehr. Nachbarn oder die Indigenen-Verbände CONAIE und CONFENIAE halfen mit Hausrat und Medikamenten aus, und der Präfekt des Bezirks schickte junge Leute mit beladenen Maultieren auf den beschwerlichen Weg nach Tsuntsuim. So lebt die Normalität wieder auf, doch die Angst sitzt tief: Werden die Soldaten wiederkommen? Welche Gemeinde wird als nächste geräumt?
In Wapis, dem Dörfchen am anderen Ende des schlammigen Waldweges, lebt Verenicio. Er ist der Präsident von Cherubia, einer Vereinigung, in der sich Bewohner aus Tsuntsuim, Wapis, Tink und zwei weiteren Dörfern zusammengeschlossen haben, insgesamt 800 Menschen. Auch Nankints gehörte dazu. Verenicio wirkt unsicher, sein zweijähriger Sohn greift unablässig nach dem Smartphone und bekommt es auch, anders lässt er sich anscheinend nicht beruhigen. Der Präsident steckt in einem Dilemma: Einerseits muss er Führungsstärke beweisen, andererseits muss er aufpassen, was er sagt. Denn auch er ist der Anstiftung zum Aufruhr angeklagt, gibt sich aber in der Sache entschlossen, so wie alle hier: „Wir wollen keine Konfrontation mit den Sicherheitskräften, aber wir haben auch Rechte. Wir beschützen unser Ökosystem. Wir wollen in Frieden leben und eine Regierung, die uns zuhört und die Konzession widerruft! Und wir werden niemals zulassen, dass Bergbauunternehmen hier aktiv werden!“
Viele Shuar sehen sich in der Tradition ihrer Ahnen. Sie waren Krieger, lebten von der Jagd und verarbeiteten ihre Feinde zu den berüchtigten Schrumpfköpfen. Das ist lange vorbei, aber ihre Lebensgrundlage blieb immer die gleiche. Sie sehen sich als Hüter des Waldes und des Wassers. Manche sagen: Das Amazonasgebiet ist nicht die Lunge der Erde, sondern ihr Herz.
Immerhin beteiligen sich einige Shuar am informellen Bergbau, den es in der Gegend gibt, beteuern aber, dieser gehe auf saubere, die Umwelt schonende Weise vonstatten. Den industriellen Bergbau hingegen lehnen sie ab, glauben den Versprechen von Wohlstand und Fortschritt nicht.
Zu deutlich haben sie vor Augen, was im drei Stunden südlich gelegenen Tundayme passiert ist, in einer Shuar-Gemeinde, die fast schon an der Grenze zu Peru liegt. Hier befindet sich das milliardenschwere Bergbaugebiet El Mirador, betrieben von EcuaCorriente S.A. (ECSA), ebenfalls ein Unternehmen chinesischer Herkunft. Der Landstrich ist dünn besiedelt, trotzdem rasen unablässig Kipplaster hin und her. Carlos Tendetza steht etwas ratlos am Straßenrand. „Acht Hunde haben sie schon überfahren“, wettert er. Der hagere Mann hat es eilig; 2015 hat er das Amt des Gemeindesprechers von seinem Bruder José übernommen. Der war ein bekannter Umweltaktivist und zog gegen El Mirador bis vor die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte. Am 2. Dezember 2014 trieb seine Leiche in einem Fluss. Er war stranguliert worden. Von wem? „Das Unternehmen hat ihn umgebracht“, ruft Carlos Tendetza erregt. Zwei Mitarbeiter sitzen als Verdächtige in Haft, doch die Ermittlungen ziehen sich hin. Carlos Tendetza hat nun den Platz seines Bruders eingenommen und keine Angst. „Sie haben uns Terroristen genannt, Eindringlinge und Verräter, dabei schützen wir die Natur. Der Fluss ist verschmutzt, die Bergkette zerstört. Aber wir haben schon immer hier gelebt und sagen: Basta!“
Und der neue Präsident? Lenín Moreno gehört zur gleichen Partei wie Vorgänger Correa. Carlos hofft dennoch, dass sich unter der jetzigen Regierung etwas ändert. Die internationale Gemeinschaft solle Druck auf die Regierung machen, damit Moreno einen anderen Kurs einschlägt und die Bergbaufirmen wieder abziehen.
Am 30. Mai gab es zum Prozessauftakt gegen die Angeklagten im Fall Nankints eine Demonstration in Quito. Die Aktivisten verlangen eine Amnestie als Vorbedingung für Gespräche. Die Regierung von Lenín Moreno hat eine Abordnung des Indigenenverbandes CONAIE in die Nationalversammlung gebeten und angehört. Immerhin.
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