Das winzige Rettungsboot „Mo Chara“ läuft aus dem kleinen Hafen Skala Sikamineas aus. Von der britischen Organisation Refugee Rescue betrieben, darf die Crew nur mit ausdrücklicher Erlaubnis der griechischen Küstenwache zur Seenotrettung in der Ägäis unterwegs sein. Nach kurzer Zeit hört die vierköpfige Besatzung über Funk, griechische Posten hätten ein Schlauchboot mit syrischen Flüchtlingen gestoppt. Keine zehn Minuten später ist die „Mo Chara“ am Ort, 20 Personen – Männer, Frauen und Kinder – klettern bereits über eine Strickleiter auf das schwere Schiff der Küstenwache. Werden sie dort aufgenommen, haben sie es geschafft, in Europa anzukommen.
Obwohl die türkischen Behörden nach wie vor die meisten Überfahrten unterbinden, ist die Zahl der Syrer, Afghanen, Kongolesen und anderer, die bisher in diesem Jahr nach Griechenland wollten, auf über 45.000 gestiegen. Allein im September waren es nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks mehr als 12.000 Menschen, die höchste Monatsrate seit 2016. Die Meerenge zwischen der türkischen Küste und den Nordägäischen Inseln ist nur ein paar Kilometer breit. Über 16.000 Flüchtlinge seien seit Januar allein auf Lesbos gelandet, resümiert Roman Kutzowitz von Refugee Rescue.
Wer auf griechischem Territorium ankommt, wartet in einem von 27 Aufnahmelagern ein Asylverfahren ab. Fünf dieser sogenannten Hotspots liegen auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios, Leros und Kos und sind seit Wochen völlig überfüllt. Den Geflüchteten ist es verboten, Festland zu betreten, bis über ihr Schicksal entschieden ist. Das heißt warten und warten, mitunter jahrelang. Mancher hat seinen Anhörungstermin erst im Jahr 2022.
Kein Wunder, wenn auf Lesbos im Lager Moria statt der 3.000 Personen, für die das Camp gedacht ist, mittlerweile bis zu 13.000 Menschen leben; darunter 2.700 Kinder, davon wiederum 500 unbegleitete Minderjährige, die dem Herbstwetter ausgesetzt sind, stundenlang nach Essen oder zum Duschen anstehen. Im Vorjahr bereits monierte Dunja Mijatović, die scheidende EU-Menschenrechtskommissarin, den schlechten Zustand der sanitären Anlagen und eine „hochproblematische Sicherheitslage“. Sie tat das zu Recht, denn am 25. August wurde ein 15-Jähriger erstochen, einen Monat später ein fünfjähriges Kind vor dem Tor überfahren. Und am 29. September brach – vermutlich durch einen Kurzschluss – ein Feuer aus. Es gab eine Tote und mehrere Verletzte, Unruhen waren die Folge. Obwohl schon Ende 2016 ein Gaskocher einen Großbrand auslöste, durch den zwei Menschen ums Leben kamen und ein Teil des Lagers vernichtet wurde, gibt es bis heute keinen Evakuierungsplan.
Tagsüber warten viele im Camp nur darauf, dass es Abend wird. Eine Frau mit Kopftuch fegt den Boden vor ihrem Zelt. Khalid aus Kabul hat sich selbst einen Ofen gebaut und bäckt unentwegt Brot, das er dann verschenkt. Im Schatten vor dem „Katrina Shop“ an der Straße, die am Lager vorbeiführt, sitzt Johnny aus Kamerun und wartet auf seinen Interviewtermin. Auf den Fotos, die er aus der Tasche zieht, sind zerstörte Häuser und verstümmelte Leichen zu sehen.
„Welcome to hell“
Es gibt zwar einen Zaun, aber der ist derart durchlöchert, dass jeder rein- und rauskommt und schnell im „Dschungel“ landet, dem wilden Gelände für Neuankömmlinge. Hier lebt der Palästinenser Marwan: „Welcome to hell“, grüßt er zynisch. Marwan teilt nicht nur sein Zelt mit neun anderen Männern, auch die Probleme: „Wir haben versucht, ein besseres Leben zu finden, nicht dieses hier“, sagt Ahmed aus dem Jemen, der ebenfalls auf seine Anhörung wartet. „Ich habe schon Leute getroffen, die an diesem Ort seit zwei oder drei Jahren leben und noch immer keine Papiere haben, und ich will hier nicht sterben ...“ Weil das Essen nicht reicht, kocht er im Zelt Spaghetti auf einer brüchigen Kochplatte, die aus einer provisorischen Steckdose mit Strom versorgt wird. Jede Nacht gebe es Betrunkene und Schlägereien, beklagt sich Omid aus Afghanistan. „Wenn sie uns nicht vernünftig unterbringen können, dann sollen sie doch die Grenzen öffnen!“
„Es ist ein täglicher Kampf für jeden, der hier leben muss, vor allem für die Verletzlichsten“, meint der Rechtsanwalt Spiros Tsouanopoulos. Der griechische Staat verzichte auf jede Präsenz, lasse Schlägereien oder angedrohte Vergewaltigungen zu. Tsouanopoulos kritisiert, dass Moria trotzdem weiter als eine Einrichtung hingestellt werde, die für Asylsuchende sicher sei. „Deswegen behaupten die Behörden, dass es dort kaum Vergewaltigungen gebe, obwohl jeder weiß: Das ist nicht wahr.“
Neben dem Lager Moria gibt es auf Lesbos zwei weitere Camps: Das ebenfalls staatliche Containerdorf Kara Tepe mit etwa 1.200 Plätzen, die ausschließlich Familien vorbehalten sind, ist friedlicher und besser organisiert. Das kleine, unabhängige Lager Pikpa steht für eine Alternative zum staatlichen Umgang mit Migranten. Mit nur gut hundert Plätzen für besonders Hilfsbedürftige wirkt es mit seinen im Wald stehenden Holzhäuschen fast wie ein Campingplatz. „Dort sind die Bewohner selbst für alles verantwortlich“, meint der französische Aktivist Quentin. „Wir beherbergen die Menschen unter würdevolleren Bedingungen. Wir wollen sie dabei unterstützen, sich ein eigenes Leben aufzubauen“, doch drohe dem Camp gerade die Räumung.
Erste Herbststürme
Es gibt einen Gemeinschaftsgarten, eine Küche, die täglich 800 Essen zubereitet, eine Reparaturwerkstatt, die „Freedom School“ und das selbst organisierte Tagungszentrum „One Happy Family“, das sich als ein quirliger Ort erweist, dazu eine Mediengruppe und sogar einen Friseursalon. „Unsere Idee ist es, mit den Menschen und nicht für sie zu arbeiten“, erklärt der Schweizer Fabian Bracher. „Geflüchtete sind die Lehrer, bilden die Security und sind auch Teil unseres Koordinierungsteams.“
Kein Wunder, dass Lesbos auch ein Hotspot für NGOs ist. Neben der Caritas und „Save the Children“ gibt es eine Vielzahl kleinerer Initiativen von Freiwilligen. Allein 13 davon kümmern sich um den juristischen Beistand für Syrer oder Afghanen. Monitoring-Gruppen wie Lighthouse Relief, Mare Liberum und Campfire wiederum beobachten das Meer und versuchen Geflüchtete rechtzeitig zu entdecken.
„Das meiste, was gesetzlich vorgeschrieben ist, wird nicht von der Regierung oder der Europäischen Union geleistet, sondern von privat finanzierten Gruppen“, kritisiert Fabian Bracher. Seit 2016 der EU-Türkei-Vertrag geschlossen wurde, seien die Behörden hier mit der Unterbringung der Geflüchteten überfordert. „Weder Athen noch Brüssel als EU-Zentrale wollen die Lage so verbessern, dass es menschenwürdige Quartiere gibt, weil sie denken, dass dann noch mehr kommen.“ Das oft als Erfolg gepriesene Abkommen führe zu einem „Totalversagen“, findet auch der Franzose Quentin aus dem Camp Pikpa: „Seit Jahren kämpfen wir dafür, den EU-Türkei-Deal zu beenden. Er hat die Migration nicht gestoppt, sondern dafür gesorgt, dass Menschen unter immer gefährlicheren Umständen reisen müssen.“
Momentan befinden sich auf den griechischen Inseln nach UN-Angaben mehr als 36.000 Flüchtlinge, täglich kommen neue hinzu. Seit dem türkischen Einmarsch in Nordsyrien ist damit zu rechnen, dass die Zahlen erheblich steigen. Auch die der Ertrunkenen, wenn überfüllte Boote kentern. Für Roman Kutzowitz von Refugee Rescue ist es jetzt erst recht unerlässlich, eine „Safe Passage“ einzurichten. Nur sieht es danach nicht aus. Stattdessen will die konservative Regierung in Athen die Asylverfahren verkürzen, um mehr Menschen in die Türkei zurückschicken zu können. Außerdem soll es zusätzliche Grenzpatrouillen und geschlossene Lager geben. Bereits jetzt werden Menschen mit geringen Chancen auf ein Bleiberecht interniert, vorzugsweise Männer aus Pakistan und Afghanistan.
Im Lager Moria wartet Johnny aus Kamerun mit seinen verstörenden Fotos noch immer und weiß, dass von den Flüchtlingen aus seinem Land nur jedem vierten Asylrecht eingeräumt wird. Gerade ziehen erste Herbststürme mit Starkregen über Lesbos hinweg, womit die Lebensumstände in den Lagern immer unerträglicher werden.
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