Und dann ist es auf einmal still. Mehrere hundert Zuhörer bei der großen Abschlusslesung haben sich vom Betonboden erhoben und schweigen. Selbst das endlose Hupen der Autos, das Dröhnen der Busse, das Sausen der Metro scheinen leiser als sonst. Der Festivalleiter Fernando Rendón hat zu einer Schweigeminute für die Hunderttausende von Opfern des seit mehr als fünf Jahrzehnten andauernden Kriegs in Kolumbien aufgerufen. Kolumbien steht dank der Friedensverhandlungen mit der Guerilla vor einem Ende des seit Jahrzehnten andauernden bewaffneten Konflikts.
Auch das Lyrikfestival von Medellín entstand im Kontext dieses Kriegs: 1991 war die Stadt im Nordwesten Kolumbiens eine der gefährlichsten der Welt. Das Drogenkartell von Pablo Escobar bekämpfte den Staat mit Autobomben und Auftragsmördern, Paramilitärs gingen gegen Mitglieder der Linkspartei Unión Patriótica vor. Das öffentliche Leben nach Sonnenuntergang war zum Erliegen gekommen. Damals begann eine kleine Gruppe von Schriftstellern und Poeten um Fernando Rendón und Gabriel Franco, mit Lyriklesungen unter freiem Himmel den öffentlichen Raum „zurückzuerobern“, wie sie sagen.
25 Jahre später liegt die Mordrate in Medellín auf Rekordtief, und das Internationale Poesiefestival ist eines der größten und bekanntesten seiner Art. Ende Juni waren es 60 Poeten aus aller Welt, die ihre Texte eine Woche lang in der ganzen Stadt vortrugen. Nicht nur in klassischen Kulturinstitutionen wie Theatern, Bibliotheken und Museen, sondern wie immer schon auch auf öffentlichen Plätzen und in den comunas, den bis heute von Bandenkriminalität geprägten Armenvierteln auf den Hügeln der Stadt. Die mittlerweile weltweit beliebte Idee, Lyriklesungen auf der Straße zu veranstalten, hat es in Medellín von Beginn an gegeben.
Dank seiner Internationalität und den finanziellen Kapazitäten kann das Festival alljährlich eine große Vielfalt anbieten. Dieses Jahr traten neben Lyrikern wie der Polin Krystyna Dąbrowska, dem Deutsch-Schweizer Jochen Kelter oder der Uganderin Juliane Okot Bitek, Tochter des Dichters Okot p’Bitek, auch Performancekünstler wie das Münchner Paar Augusta und Kalle Laar oder der ägyptische Rapper MohamedEl Deeb auf, der 2012 mit seinen Konzerten auf dem Tahir-Platz bekannt wurde. Seine Texte über enttäuschte politische Hoffnungen und die Wertschätzung der eigenen und vielfältigen Kultur kommen beim überwiegend jungen Publikum gut an.
„Es scheinen mir sehr viele Parallelenzwischen der arabischen und der kolumbianischen Gesellschaft zu existieren“, sagt El Deeb dann auch und verweist auf die koloniale Erfahrung und die Identitätskrise der jungen Generation. Zu den Lesungen kommen Hunderte, manchmal mehr als 1.000. Warum? Gabriel Franco sagt ohne Scheu vor Pathos: „Es ist so, als ob die Leute, ohne es zu wissen, das Licht suchten, denn es hat in Medellín sehr viel Schatten gegeben. Wir haben das Bedürfnis, umarmt zu werden, und uns ist, als ob die Poeten, die aus aller Welt kommen, uns umarmen würden.“
Esoterische Wende
Das Festival von Medellín entstand als Antwort auf eine besondere gesellschaftliche Situation, und dieses Erbe bewahrt es bis heute. Ein apolitisches Lyrikfestival zu sein, sagt Franco, diesen Luxus könne man sich vielleicht in Europa leisten. Wenn es so etwas wie apolitisch überhaupt gebe. „Wir sind dazu gezwungen, innerhalb der politisch polarisierten Realität unseres Landes zu handeln.“ Deutlich bezogen die Organisatoren in der Vergangenheit Position: für den Weltfrieden und gegen den globalen Kapitalismus mit seinen negativen Folgen. Der Schweizer Schriftsteller Armin Senser schrieb in einem kritischen Essay über seine Teilnahme vor einigen Jahren, Poesie werde in Medellín als Orakel verstanden, von dem man eine Art magische Wirkung auf das Gefüge dieser Welt erwarte.
Bewusst laden die Organisatoren Dichter aus Ländern mit bewaffneten Konflikten ein. Das führte dazu, dass mancher Teilnehmer angesichts der großen Zuhörerschaft seine Redezeit für politische Statements nutzte: „Viva el comandante Hugo Chávez!“, „Free Palestine!“, „Respekt für die indigenen Völker!“.
Gabriel Franco gibt zu, dass dieser „Agitprop“ dem Festival nicht immer zum Guten gereicht hat. Deshalb habe man dieses Jahr auf ein direktes politisches Thema verzichtet. Stattdessen legten die Organisatoren einen Schwerpunkt auf die altgriechischen Initiationsrituale von Eleusis, womit man an die spirituellen Elemente in der Wiege Europas erinnern wolle. Die Veranstaltungen zu diesem Thema wurden auch von schamanischen „Harmonisierungsritualen“ der indigenen Dichter begleitet. Die Zuschauer waren aufgerufen, eine Frucht mitzubringen, um die Pachamama, die Mutter Erde, zu ehren. Dass damit eine gewisse Tendenz ins Esoterische einherging, versteht sich von selbst.
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