Im Frühsommer 1989 veröffentlicht das US-Magazin The National Interest einen Essay mit der gewagten Schlagzeile The End of History?, geschrieben von Francis Fukuyama. Der Philosoph verkündet das nahe Ende der großen ideologischen Schlacht zwischen Ost und West. Die liberale westliche Demokratie sei dabei, zu triumphieren. Angesichts sich mehrender antikommunistischer Tendenzen in der Sowjetunion scheint er den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben. Fukuyama wird zum Star- und Hof-Philosophen des globalen Kapitalismus.
Als drei Jahre später sein Buch Das Ende der Geschichte erscheint, ist das einschränkende Fragezeichen getilgt. Später wird die These oft wiederholt und oft genug angefochten. Kritiker verweisen auf den 11. September 2001 und den Aufstieg des Islamismus. Ab 2011 gilt auch der Arabische Frühling als Zeichen für den Wandel – das Elixier der Geschichte. Dabei hatte Fukuyama nicht behauptet, dass sich nichts Bedeutsames mehr ereignen würde oder dass es kein Land mehr gebe, das sich dem Modell der liberalen Demokratie widersetze: „Am Ende der Geschichte werden nicht alle Gesellschaften notwendigerweise liberale Gesellschaften sein“, hatte er geschrieben. „Sie hören nur auf, so zu tun, als würden sie andere und höhere Formen des menschlichen Zusammenlebens verkörpern.“
Fukuyama konnte sich nicht vorstellen, dass die liberale Demokratie des Westens mit ihrer Balance zwischen Freiheit und Gleichheit je übertroffen werden könnte. Diesem Muster zu folgen heiße, das Weltgeschehen zu beruhigen. Was sonst sollte die Alternative sein? „Was wir heute erleben“, behauptete Fukuyama 1989, „ist vielleicht das Ende der Geschichte als solcher, das heißt, der Endpunkt der ideologischen Evolution der Menschheit und die Universalisierung der westlichen Demokratie als Regierungsform.“ Er bezog sich auf die Philosophie Hegels, der Geschichte als lineare Abfolge von Epochen definiert hatte. Technologischer Fortschritt und die kumulative Lösung von Konflikten hätten es der Menschheit ermöglicht, sich von einer Stammes- zu einer Feudal- und schließlich Industriegesellschaft zu entwickeln. Karl Marx sah den Kommunismus als Endpunkt dieser Reise. Für Fukuyama war es – wie für Hegel – die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft.
Nach 1989 erwies sich diese Argumentation wegen der neoliberalen Hegemonie als erstaunlich resistent gegen Anfechtungen von links. Seit 2008 allerdings – seit der Weltfinanzkrise und der Rettung maroder Privatbanken mit öffentlichen Geldern, seit der Occupy-Proteste gegen den Austeritätskurs vieler Regierungen – haben linke Autoren wie der französische Philosoph Alain Badiou in seinem Buch The Rebirth of History oder Seumas Milne in seiner Essay-Sammlung The Revenge of History nachdrücklich gefragt: Ist die Geschichte wieder auf dem Vormarsch? „Muss alles so bleiben, wie es ist, auch wenn die Welt dessen längst überdrüssig geworden ist?“, so Badiou. „Ist diese Welt in eine heilsame Krise geraten?“
Die arabischen Aufstände von 2011 betrachtet Badiou zaghaft als Wendepunkte. Sie hätten das Potenzial, um eine neue politische Ordnung einzuläuten. Für Seumas Milne zeigen das Unvermögen der USA, den Irak und Afghanistan zu „demokratisieren“, die Finanzkrise und die Blüte des Sozialismus in Lateinamerika, dass der durch das Ende der Sowjetunion entstandene „unipolare Moment“ zu Ende geht. Offen bleibe die Frage, wohin dies führe. Oft fehle es sozialem Protest heute an bindender Kraft. Er zerfalle in Online-Petitionen und monothematische Kampagnen.
Viele Linke haben längst erkannt, dass Fukuyama einen ideologischen Taschenspielertrick vollführte. Wurden mit der „westlichen Demokratie“ wirklich Prinzipien der Französischen Revolution von 1789 bewahrt oder diente sie lediglich dazu, eine reaktionäre Politik unanfechtbar zu machen und demokratisch zu bemänteln? Fukuyamas „universales Anrecht des Menschen auf Freiheit“ klingt verlockend, obwohl damit nichts weiter als ein florierender Wirtschaftsliberalismus gemeint ist. Der sich im Übrigen oft als banale Fiktion erweist: Was hat es mit freien Märkten auf sich, wenn die ständig manipuliert werden?
1989 arbeitete Fukuyama als Neokonservativer für die RAND Corporation, den Thinktank des militärisch-industriellen Komplexes der USA, und war seinem Mentor Paul Wolfowitz in die Reagan-Regierung gefolgt. Er war davon überzeugt, dass im Westen „die Klassenfrage erfolgreich gelöst“ sei. Mit dem „egalitären Charakter des modernen Amerika“ sei „die klassenlose Gesellschaft, wie sie Marx vorschwebte“, erreicht.
Nach George W. Bushs katastrophalen Fehlern im Irak und in Afghanistan distanzierte sich Fukuyama in seinem 2006 erschienenen Buch America at the Crossroads plötzlich vom Neokonservatismus. Um seine These vom „Ende der Geschichte“ aufrechtzuerhalten, argumentierte er, die Neocons seien in einen historischen Determinismus des künstlichen Nation Buildings à la Lenin verfallen. Die „post-ideologische“ Volte geht sogar noch weiter: „Die Märkte“, die Fukuyama weiterhin als „Motoren des Fortschritts“ preist, gelten ihm nun gar als etwas „Natürliches“ wie die Schwerkraft oder Evolution. Märkte würden der Politik „realistische“ Grenzen setzen wie die „Staatskasse“ jeder überbordenden Sozialstaatlichkeit.
Doch zurück zum Fukuyama von 1989. Der wollte seine Positionen von denen des Soziologen Daniel Bell unterschieden wissen, der 1960 eine Essay-Sammlung mit dem Titel The End of Ideology veröffentlicht hatte. Darin beschrieb er eine „beunruhigende Zäsur“. Die Gesellschaft habe die „alten apokalyptischen und chiliastischen Visionen“ verworfen. Bell hatte seinerzeit Verbindungen zum Neokonservatismus, bestritt aber eine Zugehörigkeit zu irgendeiner Ideologie, weil die Zeit der Ideologien vorbei sei. Fukuyama hingegen erklärte 1989, vom „Ende der Ideologie“ könne man nur reden, sofern damit gemeint sei, dass sich die beste aller möglichen Ideologien durchgesetzt habe.
Wie auch immer – die Theorien vom „Ende der Geschichte“ und „Ende der Ideologie“ liefen auf das Gleiche hinaus: Auf eine intellektuelle List, mit der die Marktwirtschaft zum letzten Wort der Geschichte verklärt wurde. Ungeachtet dessen enthielt Fukuyamas Theorie einen Aspekt, den man nicht weganalysieren kann. Gemeint ist die überraschend treffende Aussage: „Das Ende der Geschichte wird eine traurige Zeit sein. Der Kampf um Anerkennung, die Bereitschaft, das Leben für ein abstraktes Ziel zu riskieren, der weltweite ideologische Kampf, der Mut und Idealismus verlangt, wird ersetzt sein durch wirtschaftliche Kalkulation und die Befriedigung anspruchsvoller Konsumentenwünsche.“
Man kommt nicht umhin, dies als zutreffendes Porträt unserer Zeit zu bezeichnen, in der Rechte wie Linke gleichermaßen einen libertär-paternalistischen Ansatz pflegen. Er geht davon aus, dass es für jedes Problem eine tendenziell technische Lösung gibt. Man fühlt sich darin bestärkt, wenn in Rio de Janeiro Tausende auf der Straße kampieren, um die Eröffnung des ersten Apple Stores in Lateinamerika zu erleben. „Die Moderne war eine Zeit, in der die Menschen – allein oder gemeinsam – den Marmor der Geschichte mit dem Hammer des Willens formen konnten“, schreibt der Autor und Aktivist Franco „Bifo“ Berardi. „Heute hingegen existiert keine fortschrittliche Vorstellung von Zeit mehr.“
Ist die heutige Skepsis gegenüber Fukuyama Anlass für Optimismus? Er selbst mutmaßte vor 25 Jahren, die Aussicht auf „jahrhundertelange Langeweile“ könne möglicherweise dazu führen, dass die Geschichte doch noch fortgesetzt werde. Es besteht die leise Hoffnung, dass es sich bei dieser Langeweile um einen Luxus handelt, den sich die meisten von uns nicht leisten können.
Eliane Glaser ist Radioproduzentin und Essay-Autorin beim Guardian
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