Zeitgeschichte Die erste gesamtdeutsche Regierung wird unter Verzicht auf ostdeutschen Sachverstand gebildet – ein Zeichen dafür, wie die Aufgabe „Transformation Ost“ unterschätzt wird
Da umgab er sich noch gern mit Ost-Expertise: Kohl in Leipzig, März 1990
Foto: Purkiss Archive/Akg-Images/Picture Alliance
Westdeutsche Medien feiern das Bundestagsvotum vom 2. Dezember 1990 als „erste freie gesamtdeutsche Parlamentswahl seit 1933“. Es verschafft Helmut Kohl (CDU) für seine schwarz-gelbe Koalition eine komfortable Mehrheit, sodass er sich am 17. Januar 1991 im Bundestag mit 378 gegen 257 Stimmen erneut zum Kanzler wählen lässt. In seiner Regierungserklärung heißt es, nunmehr komme es darauf an, „ganz Deutschland geistig, kulturell, wirtschaftlich und sozial zusammenzuführen“. Wer damit gerechnet hat, dass von den 18 Ministerien ein signifikanter Teil an Politiker aus dem Osten vergeben wird, hat sich getäuscht. Lediglich drei Ressorts gehen an Kabinettsmitglieder mit DDR-Vergangenheit: an Angela Merkel (CDU) als Ministerin für Fra
Frauen und Jugend. Rainer Ortleb (FDP) wird Bildungsminister, Günther Krause (CDU) bis 1993 Verkehrsminister. Das Kabinett Kohl IV stellt keine Ausnahme dar. „Fast alle Leitungsgremien in Deutschland sind westlich besetzt und denken westlich“, moniert Bundespräsident Richard von Weizsäcker Anfang Februar 1991 in einem Interview für das Wochenblatt Die Zeit.Warum meint Kohl im ersten Jahr der Einheit auf die Expertise ostdeutscher Fachleute verzichten zu können? Eine Position, die er mit einer Mehrheit der Westdeutschen in Führungspositionen teilt? Die Frage nach den Gründen beantwortet Professor Eberhard Richter, einer der führenden Psychoanalytiker der Bundesrepublik, im Juni 1991 mit dem Hinweis darauf, dass für viele „der Fall des SED-Regimes und die Flüchtlingslawine aus dem Osten“ bestätigt hätten, „dass wir hier im Westen eine fabelhafte Gesellschaft haben“.Vor allem daraus resultiert offenkundig, dass die mit der Integration des Ostens übernommene Aufgabe der ökonomischen und sozialen Transformation unterschätzt wird. „Die deutsche Wirtschaft nimmt heute im internationalen Vergleich eine Spitzenstellung ein. Und ich bin sicher, wir werden unseren Platz behaupten“, so Kohl in einer Fernsehansprache „an das deutsche Volk“. Angesichts des zu erwartenden Wohlstands dürfe man mit der Bereitschaft des Ostens rechnen, auch kulturell zu den Westdeutschen aufschließen zu wollen.Gibt es 1991 unter bundesdeutschen Politikern auch andere, weniger optimistische oder gar gegensätzliche Stimmen? Werden sie in der bundesdeutschen Öffentlichkeit gehört? Der CDU-Politiker Kurt Biedenkopf, lange Zeit ein Vertrauter Kohls, stimmt mit dem Kanzler in der Frage der raschen kulturellen Angleichung nicht überein. In einem Zeit-Gespräch zeigt er sich eher beunruhigt: „In den Köpfen der Menschen geht im Augenblick sozusagen der Kampf der Systeme weiter.“ Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth (CDU), als parteiinterne Gegnerin Kohls gehandelt, spricht in ihrer Rede zum ersten Jahrestag der deutschen Einheit davon, dass „der Wille zum tatsächlichen Zusammenfinden“ auf Grenzen zu stoßen scheine.Noch deutlicher benennt Wolfgang Thierse als aus der DDR stammender SPD-Politiker im Februar 1991 seine Unzufriedenheit über den Stand der deutschen Einheit und beklagt, eine Annäherung zwischen Ost und West sei „nicht zuletzt gefährdet durch die kulturelle Praxis in der alten Bundesrepublik, ihre Strukturen und Finanzierungsmodelle, ihre Organisationsformen und Entscheidungsmechanismen als allein seligmachenden Maßstab anzusehen. Alles das, was in dieser Hinsicht in der ehemaligen DDR bestand, ist dann schlecht, zu vernachlässigen, passt nicht, ist systemwidrig.“So wie Thierse melden sich kaum andere ostdeutsche Politiker und Bürgerrechtler zu Wort. Warum lassen sie sich die ständig kolportierten und diffamierenden Urteile über die Ex-DDR-Bürger gefallen? Zur Erklärung sei Jens Reich, Mitbegründer des Neuen Forums, zitiert, der im Juni 1991 anmerkt: „Der Einigungsvertrag hat uns überfahren. Unsere Einflussnahme ist beschränkt.“Der Eindruck, man brauche sich nicht allzu viele Sorgen um das Gelingen der Einheit zu machen, wird nicht nur durch regierungsnahe westdeutsche Politiker erweckt, auch durch Publizisten, denen in Zeitungen und im Hörfunk zur besten Sendezeit Gelegenheit gegeben ist, über das Erbe der DDR und diejenigen ihrer Bürger herzuziehen, die von dem bisherigen System nicht schnell genug lassen wollen. Zu den wenigen, die sich dem verweigern, zählt der Westberliner Journalist Peter Bender, der über die Art des Umgangs „der Westdeutschen mit ihren Landsleuten“ moniert: „Vor einem Jahr war man einander gerührt in die Arme gesunken, jetzt sind sie lästig geworden ... Jetzt aber muss alles werden wie bei uns. Wo früher der Staat alles machte, soll nun der Privatunternehmer alles in die Hand nehmen – den Betroffenen scheint, sie fielen von einem Extrem ins andere.“Bender hat damit sicherlich recht. Die Reserviertheit der Ostdeutschen wird umso verständlicher, zieht man in Betracht, dass Anpassung verlangt wird, zugleich aber der ökonomische Aufschwung ausbleibt, sich stattdessen die Wirtschaftslage im Osten verschlechtert. Dazu äußert sich die Publizistin Ilse Spittmann am 12. Januar 1991 in einem Artikel zum Jahr der deutschen Einheit so: „Während die Produktion um mehr als die Hälfte zurückging, an die 600.000 Arbeitslose und 1,8 Millionen Kurzarbeiter zum Jahresende gezählt wurden, ist für 1991 die Fortsetzung der Talfahrt prognostiziert.“ Derartige Vorhersagen sollen sich als richtig erweisen. Nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln hat das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner – die bei Ländervergleichen am häufigsten benutzte Kennziffer, um die Wirtschaftskraft einer Region zu messen – in der DDR 1989 noch etwas mehr als die Hälfte des entsprechenden Wertes in der Bundesrepublik betragen. 1991 werden es nur noch 33 Prozent sein. Ein solcher Verlust an Wirtschaftskraft, den die Ostländer 1990/91 hinnehmen müssen, lässt sich so schnell nicht kompensieren. 1995 liegt das ostdeutsche Bruttoinlandsprodukt je Einwohner bei 59 Prozent des Wertes im Westen, erst 2018 werden 70 Prozent des Westniveaus erreicht, doch steht ein Gleichziehen bis heute nicht zu erwarten.Dass sich das von Helmut Kohl den Bürgern der neuen Bundesländer vor den Wahlen am 2. Dezember 1990 versprochene rasante Aufholen, inklusive einer Angleichung der Lebensverhältnisse, in den ersten Jahren nach der Vereinigung zeitweilig ins Gegenteil verkehrt und von der Tagesaufgabe zum Fernziel wird, hat mehrere Gründe. Einer besteht in der Kanzlerschaft Kohls, der sich hartnäckig weigert, seinen dogmatischen Glauben an die gestaltenden Kräfte des freien Marktes und das fatale Prinzip „Rückgabe vor Entschädigung“, vor allem bei Immobilieneigentum, aufzugeben.Der Kanzler lässt im Januar 1991 die Gelegenheit verstreichen, bei der Regierungsbildung mehr Ostkompetenz ins Kabinett zu holen. Er überhört beim Verfassen der Regierungserklärung die Warnungen seines Parteifreundes Biedenkopf, der zu den Gefahren des von Kohl gewählten Weges der Transformation Ost meint: „Das eigentliche Risiko aber ist folgendes: Wenn der Vertrauensfaden reißt, wenn das Vertrauen, das die Menschen hier immer noch in die innere Einheit haben, verloren geht, werden diejenigen, die wir hier am dringendsten brauchen, nämlich die innovativen Kräfte, abwandern. Dann geraten wir in eine Art Negativspirale. Und dann muss entweder eine neue Vormundschaft einsetzen – das heißt, der Westen muss die Ostbevölkerung unter Vormundschaft nehmen, weil die eigenen Eliten fehlen –, oder es entsteht eine dauerhafte Subventionslandschaft mit der ganzen Spannung, die daraus resultiert.“Rückblickend kann man dazu nur sagen: Biedenkopf, von 1990 bis 2002 Ministerpräsident in Sachsen, hatte recht. Hätte man seine Auffassungen und die anderer Kritiker bei der Bildung von Kohls vierter christlich-liberaler Regierungskoalition berücksichtigt, wäre vielen Ostdeutschen vieles erspart geblieben.
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