A–Z: Déjà-vu

Lexikon Wir hören wieder von der „Dynamik der Pandemie“, es ist wie im „Murmeltier“-Film. Und auch bei den „Simpsons“ tauchten dreiäugige Fische und Corona auf, bevor sie unsere Realität crashten. Unser Lexikon
Ausgabe 46/2021
A–Z: Déjà-vu

Foto: Charlkie Davies/Getty Images

A

Abstimmung Hit oder Niete? Da horcht die Boomergeneration auf. Ab 1967 ließ „Jockdiskey“ Mal Sondock eine fünfköpfige Jury wöchentlich darüber abstimmen, welche neue Single es in die Charts schaffen würde. „Diskothek im WDR“ hieß das Kultprogramm des gebürtigen Texaners, der als GI nach Deutschland gekommen war und jeden Mittwoch die Jugend im Westen der Republik an die Kofferradios lockte. In den Achtzigern kam das Aus, angeblich waren die Einschaltquoten zu niedrig. Sondock starb 2009 mit 74 Jahren, aber seine Sendung ist unvergessen. Aber nun ist sie wieder da. Auf WDR 4, dem Spartenkanal für die ältere Generation, sitzt samstags der Schlagerclown Guildo Horn am Mikro und reproduziert Hit für Hit eine 50 Jahre alte Playlist, leider ohne den Charme des amerikanischen Buchstabenverdrehers (Stolling Rones). Uns Zeitzeugen wird’s kalt und warm ums Herz. Joachim Feldmann

E

Endlosschleife Christian Drosten sagte in der ZEIT, er wolle nicht zu einem Papagei werden. Er halte alles Wesentliche zur Pandemie für gesagt. Was Drosten da verlautbart, offenbart auch die gegenwärtige Situation: Die Natur lässt den sich bisher als überzeugten Herrscher der Dinge fühlenden Homo sapiens ziemlich tief in den Morast der Selbstherrlichkeit niederknien. Und so lebt der modern domestizierte Mensch in seinem gefälligen Gefühl der Selbstbestimmungsberechtigung nun in einem Schleudergang der zwangsweisen Gleichförmigkeit. Seit März 2020 läuft das immer gleiche Waschprogramm, wobei sich nur die Umdrehungen ändern. In Bayern herrscht erneut Söder’scher Schleudergang. Wenn Bill Murray in dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier (1993) immer wieder den gleichen Tag erlebt, könnte er mittlerweile die vierte Wand zu uns durchbrechen und rufen: „Reality depends on certain circumstances.“ Unsere Existenz führt uns an der kurzen Leine, leider haben wir sie diesmal nicht in unserer Hand. Jan C. Behmann

F

Fußgängerzonen Es sind zu viele, zu oft gesehen: Kennst du eine, kennst du alle: Beim Gang durch deutsche Fußgängerzonen ereignet sich vor allem Erwartbares. Überall die gleichen Klamottenladenketten, Backshops und Drogerien. An Attraktivität und Originalität haben die Innenstädte darum schon lange verloren. Und selbst wer einfach nur schön shoppen möchte, der findet keine Abwechslung. Andererseits haben Flaniermeilen von genau diesen realen Déjà-vus, dieser Vertrautheit, lange profitiert. Corona hat die Flucht in den Onlinehandel beschleunigt, einstige Einkaufszonen sehen trostlos aus. Besserung könnte in Sicht sein. Esprit will die Hälfte seiner Modegeschäfte dicht machen, Douglas plant eine Reduzierung seiner Parfümerien und 30 Prozent der Karstadt-Kaufhof-Häuser sollen weichen. Dies könnte die Ladenmieten senken und in den Innenstädten könnten sich dann wieder lokaler Einzelhandel, Kultur und Soziokultur ansiedeln. Damit bekämen die Zentren wieder eine Aufenthaltsqualität jenseits des Massenkonsums. Man könnte schlendern gehen, ohne dieses lähmende Gefühl des „alles schon gesehen“ – jene Sinneswahrnehmung, die in diesem Fall nicht einmal trügt ( Platon). Tobias Prüwer

G

Geheimnis Was geschieht im Gehirn im Moment eines Déjà-vus? Frühere Forschungen brachten dies mit dem Phänomen Schizophrenie oder einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung in Verbindung. Einem Team um Akira O’Connor von der School of Psychology and Neuroscience an der University of St. Andrews gelang es mittels bildgebender Verfahren, Déjà-vus bewusst auszulösen. Dabei wurden keine substanziellen Zusammenhänge zwischen Déjà-vu-Erlebnissen und mentalen Krankheiten festgestellt. Déjà-vus, so O’Connor, entstehen nicht durch falsche Erinnerungen (➝ Nektarinen). Vielmehr reagieren vordere Hirnareale für kognitive Steuerung, Fehlerüberwachung und Konfliktlösung bei der Qualitätsprüfung unserer Erinnerungen auf wirklich Erlebtes oder nur Erdachtes mit erhöhter Aktivierung bei Fehlererkennung. Das könnte ein Déjà-vu auslösen. Helena Neumann

K

Kopie Wo Originalität ist, ist auch Nachahmung ( Abstimmung). Nicht jeder Kopist ist ein Kunstfälscher. Manche stellen legale Replikas oder Multiples her. Für kaum mehr als 100 Euro zu erwerben, Öl auf Leinwand, in chinesischen Manufakturen gemalt, ist etwa Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrgehänge. Natürlich gibt es auch van Gogh, Klimt, Renoir, Monet, Cézanne oder Picasso aus China. Oder die „Mona Lisa“. In der chinesischen Metropole Shenzen haben etwa 8.000 Maler nichts anderes zu tun, als Meisterwerke zu kopieren. Marc Peschke

N

Nektarinen Sie waren in der Fruchtschale drapiert, die auf dem Esstisch stand. Ich kam an jenem Nachmittag aus dem Kinderzimmer, sicher dachte ich nicht an Nektarinen in einer Fruchtschale. Und trotzdem blieb ich wie angewurzelt stehen, als ich dieses Bild sah. Es war nämlich eine Erinnerung. Ich hatte diesen Augenblick schon einmal erlebt. Kaum war mir das bewusst geworden, verflüchtigte sich die Erinnerung auch schon wieder. Was war geschehen (➝ Geheimnis)? Wird da eine Matrix kurz durchbrochen? Sind die Dinge alle schon geschehen und sickern kurze Fetzen des längst schon Gelebten ins Bewusstsein? Oder sind es Träume, die ins Leben sickern? Offene Fragen, deren Beantwortung nur noch mehr Fragen aufwerfen. Marc Ottiker

P

Platon Wer den Brief vom 14. April 1898 an Wilhelm Fließ liest, gewinnt den Eindruck, Freud schildere sein Déjà-vu: Im Osterurlaub im istrischen Karst analysierte Freud den Entdecker und Führer der Rudolfshöhle bei Divača. In dessen obszönem Schwadronieren über Eroberungen unterirdischer, jungfrauengleicher Reiche erkennt Freud ein erotisches Äquivalent, das alles Höhleninteresse absorbiere. Bezugspunkt ist Platons Höhlengleichnis. Darin entspricht der Aufstieg aus der Höhle ans Tageslicht dem Aufstieg der Seele von der Welt trügerischer Sinnesobjekte zur „geistigen Welt“, den Ideen und zum Guten. Wo Platon für jene Nachsicht fordert, die in die Höhle zurückkehren, diagnostiziert Freud nun jenen höhlenbegeisterten und selbsternannten größten Lump von Divača als Neurotiker. Wie führt Kultur, die, so Freud, auf Triebverzicht basiert, zu einem gelassenen, gelungenen Leben? Durch sokratisches Gnothi seauton! Erkenne dich selbst, die eigenen Triebe, auch die unbewussten. Helena Neumann

S

Simpsons Es gibt einen Running Gag bei den Simpsons. Ist bei den gelben Springfieldern von einer Person oder einem Ding die Rede, taucht sie oder es sofort auf der Bildfläche auf. Ein kleiner lustiger Effekt. Verstörender ist, dass gleich einige absurde Szenarien der Serie sich später in der Realität wiederholten. Donald Trump als US-Präsident war für Serienfans nur ein Déjà-vu unter vielen. Ob Pferdefleischskandal – hier wurde es in der Schulmensa serviert –, Griechenlandkrise oder Smartwatch: All das war bei den Simpsons zuerst da, bevor es Wirklichkeit wurde.Auch, dass Deutschland 2014 die Fußball-Weltmeisterschaft gewann, konnte man vorab in der Serie sehen, die auch das Coronathema (➝ Endlosschleife) schon streifte. Der zum Kult gewordene dreiäugige Fisch ist hier selbst als Déjà-vu angelegt. Erstmals holt ihn Bart in einer frühen Folge 1990 aus einem mit Atommüll verseuchten See. Dann tauchen immer wieder mehräugige Fische auf. Jahre später wird ein solcher Fisch mit drei Augen in Argentinien gefangen, in einem Reservoir mit Wasser aus einem AKW. Tobias Prüwer

V

Verschwunden Das singularisierte Subjekt im Spätkapitalismus fürchtet nichts mehr als die Wiederholung. Es herrscht erlebnisbezogener Eskapismus. Alles muss neu entdeckt werden. Subjekte, Objekte, egal. Weiterwischen, weiterkommen. Malls, Menschen, ➝ Fußgängerzonen, Ausflugsorte und das Ganze am besten mit einem Gutscheinheft. Immer voran, immer vorwärts – oder sogar beyond? Wäre die Erde doch eine Scheibe, die Menschen würden reihenweise in das Nichts fallen, aber würden sie noch etwas merken, etwas erleben können?

Denn der moderne Mensch neigt zu einer Erlebnisinkompetenz. Es hilft nur noch der Kick, das klirrende Delta. Die alles auskleidende Erwerbsarbeit gepaart mit der ständigen Rezeption der sozialen Blase sorgen für eine ständige Ausgelaugtheit. Dies ist die Grundlage für den Wunsch, doch bitte nicht mehr durch Bisheriges ermattet, sondern mit dem absolut Neuen überrascht zu werden. Einmal zumindest mit diesem Gefühl des „Jamais vu“. Das geht aber gar nicht. Der Kaiser hat zwar Tausende Kleider, aber es bleiben eben doch nur Kleider. Das Déjà-vu in seiner originären Form erodiert sich am Fortgang der Möglichkeiten und wird durch eine hybride Form seines Selbst ersetzt. Der Mensch, selten nur dazu bereit, merkt in seinen wenigen wahrhaften Momenten doch, dass er seiner Wirkungs- und Rezeptionsdimension weder quantitativ noch qualitativ entwachsen kann. Und dann haben wir es doch wieder, das Déjà-vu. Jan C. Behmann

W

Wiedersehen macht Freude Lange nicht mehr gehört den alten Satz. Das sagte gern, wer ein Buch verliehen hat. Die Verlautbarung aus der ND-Chefredaktion Ende der 1980er-Jahre war hingegen eine Aufforderung, bei jeder Gelegenheit Honecker zu zitieren: um dem Ego des Generalsekretärs zu schmeicheln und eine Stabilität zu beschwören, die es längst nicht mehr gab. Für die Masse der Bevölkerung hat die Medienpolitik der DDR jene Entfremdung vertieft, die es ohnehin längst gab. Gegen Phrasen bin ich bis heute allergisch, umso mehr, wenn sie „pädagogisch“ daherkommen. Tiefgründige Analysen sind interessanter als Meinungen, die sich gleichen. Die Widersprüche der Welt brauchen Nachdenklichkeit. Manche könnte es freilich befriedigen, in Kommentaren die eigenen Ansichten wiederzufinden und sie dadurch im jeweiligen Medium zu lesen. Vom Erwartbaren ( Fußgängerzone) lebt ja auch die Trivialliteratur. Es ist wie bei ungarischer Salami: Man kauft den Geschmack, den man kennt. Irmtraud Gutschke

Z

Zufall Ein Anruf von jemandem, an den man gerade dachte. „Gedankenübertragung!“, ruft man da. Gibt es das? Sicher bloß Zufall. Viele kennen das Gefühl, an einem fremden Ort schon mal gewesen zu sein. Gar in einem „früheren Leben“? Für den Psychoanalytiker Carl Gustav Jung ist ein Déjà-vu Produkt eines „kollektiven Bewusstseins“, das Fragmente der menschlichen Erfahrung zeichnet, um so von Generation zu Generation zu überdauern. Die Gehirnforschung ( Geheimnis) hat elektrische Impulse gemessen und meint, dass es um den Wunsch nach Vertrautheit geht. Wirklich? Irritiert es nicht eher? Was ist angenehmer: die Anerkennung von Zufall oder von Fügung? Entscheiden Sie selbst. Irmtraud Gutschke

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