Michael Schumann war augenfällig ein parlamentarisches Talent. Er war lange Hochschullehrer an einer juristischen Akademie, sein Fach die Philosophie. Von daher war diese politische Begabung nicht ohne weiteres zu erwarten. Seine ursprüngliche Passion war tatsächlich das Theoretische - Nachdenken und Reflexion, die Zeit brauchen. So kannten wir ihn seit den gemeinsamen Leipziger Studententagen. 1965 schrieben wir uns an der Philosophischen Fakultät in Leipzig ein, hundert Jahre nach Nietzsche, wie wir als höhere Semester gelegentlich manchen Novizen von oben herab zu verstehen gaben. Schumann war fasziniert von der Philosophie; wissbegierig und immer gründlich. Immer wenn wir unseren Freund in die Kneipe abholen wollten und in seine parterre gelegene Studentenbude in der Sommerfelder 3 hineinblickten, sahen wir ihn am Tisch mit zwei Bänden: einem zerlesenen Antiquariatsexemplar von Heideggers Sein und Zeit und der Dauerausleihe einer der Bultmann-Festschriften, Zeit und Geschichte. Die Gesprächsthemen des Abends waren wieder einmal abgesteckt.
Damals entwickelte Helmut Seidel, bei dem wir Neuzeitliche Philosophie (von Descartes bis Hegel) hörten, eine eigenständige philosophische Rekonstruktion der Marxschen Theorie, die Schumanns geistige Entwicklung grundlegend bestimmen sollte. Die Pointe dieses Denkansatzes - auch "Praxisphilosophie" genannt - war, das Objektive am Bau der Welt gerade als eine Funktion von Subjektivität zu verstehen. Jetzt interessierte nicht mehr so sehr das Dasein der Dinge, sondern ihr Gewordensein, die so genannte "tätige Seite" der Dinge. So wurde Schumanns philosophisches Denken auf die zentrale philosophische Frage schlechthin orientiert: Was ist der Mensch?
Doch zugleich musste er eine Lektion lernen, die viel später erst sein überraschendes politisches Engagement verständlich machte. Dem verehrten, untadeligen Lehrer Seidel wurde nämlich vom politisch-ideologischen Apparat wegen seiner subjektivitätstheoretischen Marx-Interpretationen mit brüsker Ablehnung begegnet. Ehrabschneiderische Angriffe, übliche Selbstkritik, obligate Parteistrafe und Publikationsbeschränkung ließen ihn für lange Zeit verstummen. Dies miterleben zu müssen, schien den Studenten Schumann zu traumatisieren. Vielleicht hat er sich hier das erste Mal gedacht, was er Mitte der Neunziger in einem Aufsatz schrieb: Dass der "Marxismus-Leninismus" offensichtlich zur Bewusstseinslage von Gegenaufklärung gehöre.
Als dann der Realsozialismus implodierte, begann Schumann etwas, was uns, die wir seine geistige Verfassung doch lange zu kennen meinten, doch überraschte: Politik als Beruf. Motiviert war dies durch eine Entscheidungsnot. Er sah das, mit dem er sich mental trotz alledem verbunden wusste, in einer weltgeschichtlichen Krise und Niederlage. Das erforderte außerordentliche Zuwendung. Es galt jetzt einzusehen, dass es eine intellektuelle Verirrung im Blick aufs Vergangene wäre, wollte man vermuten, der "Marxismus-Leninismus" sei im Realsozialismus nur nicht richtig angewendet worden oder man sei gar von jener Doktrin abgewichen. "Vielmehr muss gesehen werden", so schrieb Schumann einmal, "dass im Verhältnis beider - als ÂTheorie und ÂPraxis - ihr gemeinsamer Verfall nicht fremd gesteuert ist, sondern als Ausfluss einer Anomalie ab origine, d. h. eines Konstitutionsfehlers, zu begreifen ist". Das hatte selbstverständlich zu allererst eine tief gehende Stalinismus-Kritik zur Folge. Schumanns große Rede 1989 in der Berliner Werner-Seelenbinder-Halle auf dem Gründungskongress der PDS ist noch in aller Erinnerung.
Das nachfolgende politische Geschäft konnte er wohl auch deshalb so nachdenklich angehen, weil er nie ein Macher sein wollte. Sein Charakter und seine Bildung ließen ihn einem emphatischen Begriff des Politischen nachfolgen. Es könne, so Schumann jüngst, dabei niemals mehr um ein "radikal Anderes", "endgültig Glückliches" gegenüber unserer immer dürftig-bedürftigen Gegenwart gehen, sondern gerade um ihren in einem gemeinsamen Diskurs demokratisch zu erfassenden Begriff. Aber er hatte wohl auch in jüngster Zeit wieder erfahren müssen, dass Vergangenes nur schwer vergehen will. Immer wieder wurden ihm neuerdings Versatz- und Bruchstücke aus dem Makulaturmassiv des ehedem "Großen Plans" - wie Schumann immer wieder den Realsozialismus betitelte - gellend oder tränenreich entgegen gestreckt.
Wer die Wahrheit sucht, gehört in keine Marschkolonne - dieser Einsicht Boris Pasternaks fühlte sich Schumann verpflichtet, gerade auch angesichts seines politischen Jahrzehnts.
Schumann konnte sich natürlich sehr wohl ein Leben nach der Politik vorstellen. Für diese absehbare Zeit hatte er auch schon freundschaftliche Verbindungen von Potsdam zur Freien Universität nach Berlin-Dahlem geknüpft, zu Wolfgang Fritz Haug und dem Kritischen Wörterbuch des Marxismus.
Der Einbruch des Todes in dieses volle Leben macht uns sprachlos. In Leipziger Antiquariaten gab es einst einen philosophischen Ladenhüter, dessen man sich vielleicht doch einmal hätte erbarmen sollen - einen englischen Essay mit dem Titel Vom Unfug des Sterbens.
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