Dramödie Andreas Dorau versucht sich nach 34 Jahren wieder an einem Musical. Auf einen Tony schielt er nicht, aber auf Respekt aus der Szene. Den hat er sich verdient
Drei Jahre nach seinem 1981er-Überraschungshit Fred vom Jupiter komponierte der 20-Jährige Andreas Dorau die Kurz-Oper Guten Morgen Hose. Ein mit Laien besetztes, surreales Spektakel in Zusammenarbeit mit dem Palais-Schaumburg-Sänger Holger Hiller: „Im Detail lief das so ab, dass wir den Sängern einen Schnaps und die Cut-up-Texte gaben und sie baten, sich vorzustellen, sie seien Opernsänger und müssten nun irgendwie auf Opernsängerart diesen Text singen. Weitere Vorgaben haben wir nicht gemacht. Erst danach haben wir die Gesänge mit Orchestersounds unterlegt“, schreiben Andreas Dorau und Sven Regener im autobiografischen Text Ärger mit der Unsterblichkeit (2015). Obwohl sich das Kamerateam anfangs weigerte, „so einen Scheiß
te, „so einen Scheiß“ aufzunehmen, lief Guten Morgen Hose damals in allen Dritten der ARD.34 Jahre später hat Dorau ein deutlich zugänglicheres Musical geschrieben. Unterstützt wurde er dabei von Gereon Klug, dem Hamburger Autor und „Putzerfisch diverser Künstler“, der unter anderem für Deichkind den Slogan „Leider geil“ erfunden hat. Klugs Newsletter-Sammlung Low Fidelity. Hans E. Plattes Briefe gegen den Mainstream (2014) gilt der Zeit „als Höhepunkt des E-Mail-Zeitalters“.Zwei schräge Vögel auf dem Weg zu neuen Nistkästen also? Nicht unbedingt. Dorau und Klug haben es weniger auf einen Tony-Award abgesehen als auf den kennerhaften Applaus der Hamburger Szene.Kippenberger tut mehr wehDenn König der Möwen ist mehr als ein amüsanter Liederzyklus mit eingängigen Pop-Perlen. Er ist auch ein Nachdenken über Moral, Identität und den Generationenwechsel im Pop. Ein Dialog mit der Jugend, der nicht ganz so schmerzhaft ausfällt wie der von Martin Kippenberger.Eine Woche vor der Premiere sitzen Dorau und Klug zwischen Pflanzen, die müde ihre Köpfe hängen lassen, im staubigen Garten der Theaterfabrik Kampnagel. Es ist unfassbar heiß. Nebenan probt der Regisseur Patrick Wengenroth mit schwitzenden Schauspielern wie Daniel Hoevels, Andreas Schröders und der auch als Tatort-Kommissarin bekannten Eva Löbau, einzelne Szenen aus König der Möwen. Dorau hat zur Sicherheit ein Poloshirt zum Wechseln dabei, der Dandy Gereon Klug trägt zur Gewitterwolken-Frisur kühlendes Leinen. „Wir nennen das Stück ,eine musikalische Dramödie‘, um klarzustellen, dass König der Möwen kein Kommentar zum Thema Musical ist“, sagt Dorau, der keinesfalls den Eindruck erwecken möchte, er suche nach einem Plätzchen im bürgerlichen Kulturbetrieb. Die Handlung spielt im Hamburger Schanzenviertel, wo sich der Plattenladen Hanseplatte befindet, den Gereon Klug 2006 mitgegründet hat. Die Hauptfigur, der Plattenhändler und Möwenfreund Hans (angelehnt an Klugs Newsletter-Pseudonym Hans E. Platte), bekommt von Hamburg Marketing ein verlockendes Angebot: Für viel Geld soll er seine Geschäfte aus der Schanze in die gesichtslose Hafencity verlegen. Das ist nah an der Realität: „Das vielfältige Kulturangebot prägt in besonderer Weise das Bild der Stadt und spielt in der Gunst um Neubürger, Unternehmen und Touristen eine entscheidende Rolle“, steht auf der Webseite von Hamburg Marketing. Und auch wenn man in der Schanze „wie an keinem zweiten Ort die absurde Widersprüchlichkeit modernen alternativen Lebens zwischen falscher Unbescheidenheit und echter Dummheit sehen kann“ – das Viertel ist immer noch ein Sammelbecken für Menschen, die kulturell, politisch und sexuell anders denken. König der Möwen spielt mit diesen Wechselwirkungen zwischen Realität und Fiktion.Wer jetzt an die Stadttheater-Inszenierungen von Studio Braun denkt, liegt wohl nicht ganz falsch. Gereon Klug ist ein enger Freund des Komiker-Trios und Herausgeber der Fan-Bibel Drei Farben Braun. Trotzdem wehrt sich Dorau gegen den Vergleich: „Ich habe viele Studio-Braun-Stücke gesehen und finde, dass König der Möwen relativ wenig damit gemein hat.“In jedem Fall lauscht König der Möwen – die Titelfigur spielt Andreas Dorau persönlich – dem Nachhall der analogen Ära des Pop. „Hans ist Ende vierzig, Anfang fünfzig, mit einem entsprechenden Freundeskreis, der regelmäßig im Laden abhängt. Leute, die zu wissen glauben, was richtig und falsch ist.“ Längst sind Plattenläden vom Verschwinden bedrohte Biotope, Habitat männlicher Silberrücken, die sich stundenlang über Musik und Haltungen der von ihnen verehrten (oder zutiefst gehassten) Künstler ausbreiten können. Frauen haben da nicht viel zu melden, Gender-Debatten und #MeToo spielen auf einem anderen Planeten. In einer kleinen Szene des Musicals kommt der ehemalige Underground-Popstar Andre Winter (Daniel Hoevels) in den Plattenladen, wo sich gerade drei Frauen unterhalten: „Ach, noch gar niemand da!“ Dorau hat diese Szene selbst erlebt.„20-Jährige hören heute auch unter ganz anderen Bedingungen Musik. Gut möglich, dass da auch mal ein Typ dabei ist, der ganz deep rumgräbt. Doch die Pflicht, ein möglichst großes Musikwissen anzuhäufen, existiert nicht mehr“, meint Klug. Und das zeigt der zweite Handlungsstrang von König der Möwen: Eine blutjunge Band, drei Jungs und ein Mädchen, sucht nach einer gemeinsamen künstlerischen Identität. Haltungen spielen für das Quartett keine Rolle mehr. Die Musiker möchten einfach nur Erfolg haben, cool sein, geliebt werden. Deshalb machen sie alles mit, wozu ihnen Besserwisser und alte Szene-Fürsten raten – inklusive absurder Stil- und Namenswechsel. Die Songs dieser Band, mal heißt sie The New Feelings, mal Ben Ben Ben, mal Sonnenstuhl, sind trotzdem ein großer Pop-Spaß. Geschrieben und eingespielt wurden sie von Dorau, Carsten Friedrichs, Zwanie Jonson und einer Allstar-Band des Hamburger Tapete-Labels, wo auch das Album zum König der Möwen erschienen ist. In der Inszenierung interpretieren die Jung-Schauspieler Marthe Lola Deutschmann, Sebastian Doppelbauer, Valentin Richter und Julius Forster die Stücke.Und was bei einer Szenen-Probe schon sehr vergnüglich anzusehen war, gerät auf der Release-Party des König-der-Möwen-Albums zum Triumph. In einer Art Sound-Clash spielen die Dorau-Allstars im Wechsel mit den Schauspielern einige Songs – natürlich in der Hanseplatte. Das Publikum tobt – etwas lauter sogar bei den Jungen. Unter dem Namen Die Nachbarn spielen sie ein Stück über die einzige Generation, die heute überhaupt noch Geld für Tonträger ausgibt. „Einige davon sehe ich auch hier im Publikum“, konstatiert der Sänger süffisant: „Wir mögen euren alten Stil / Der hat Klasse, der kann viel / Blouson in Beige und Mütze auf / Geraucht wird auch im Krankenhaus“.Da lachen selbst die alten Ober-Checker im Publikum. Und genau diese Selbstironie und der leicht verspulte Humor machen den König der Möwen zu einem echten Pop-Vergnügen – mit ein paar präzise gesetzten kritischen Untertönen.Placeholder infobox-1
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