Andreas Jungwirth

'Er ist klein, unscheinbar und akkurat. Wieder und wieder zählt er die Stäbe seines Käfigs. Die Multiplikation der Anzahl der einen Seite mit der ...

'Er ist klein, unscheinbar und akkurat. Wieder und wieder zählt er die Stäbe seines Käfigs. Die Multiplikation der Anzahl der einen Seite mit der Anzahl der anderen Seite ergibt 375. Unzählige Male hat er die Stäbe abgezählt. Jedes Mal glücklich, dass alles unverändert ist, zweifelt er im nächsten Augenblick daran. Und beginnt wieder von vorne.

Wie er die Beschaffenheit seines Käfigs wie einen Plan vor seinem inneren Auge sieht, kann er die Namen und Preise der Vögel, die um ihn herum in anderen Käfigen leben, im Schlaf hersagen: Jilgueros des Himalaya (2.500 Pesten), Boton de oro (2.000 Peseten), Pico de Coral (1.500). Warum der kleine Verderon Chino, mit den grün schimmernden Flügelspitzen, an dem aber sonst wirklich nichts dran ist, 4.500 Peseten kostet, kann sich der Vogel nur damit erklären, dass der Verderon aus China kommt. Obwohl er von der Welt einiges weiß, ist China für ihn der weitest möglich entfernte Ort.

Der Vogel sei angesichts seines Daseins unglücklich? Nein. Er lebt ein sehr zufriedenes Leben. Nur, dass er seinen eigenen Namen und seinen eigenen Preis nicht kennt, nimmt ihm ein wenig von dieser Zufriedenheit (das Schild, worauf Name und Preis notiert sind, klebt am unteren Rand des Holzbodens, und so sehr er sich bemüht, es gelingt ihm nicht ein Blick darauf).

Eines Tages hört er, wie ein Mann, nachdem er eine Weile vor den Käfigen gestanden, dann zu pfeifen angefangen hatte, als aber der Vogel dem Pfeifen nicht antwortete, sein Pfeifen abbrach und zu seiner Begleiterin sagte, die sind ja alle verhaltensgestört. Die sind ja alle verhaltensgestört. Je öfter der Vogel sich den Satz hersagt, desto beunruhigender ist er, und im Nährboden dieser Unruhe keimt der Wunsch zu fliegen - die Flügel im notwendigen Ablauf zu bewegen, sodass sie den Körper, auf einem Luftkissen ruhend, forttragen. (Vom Fliegen, das er ja an anderen so gemeinen Vögeln wie Tauben und Sperlingen beobachten kann, hatte er nur eine vage Idee.)

Jetzt aber juckt und zieht es ihn in den Flügeln, genau da, wo die Flügel an seinem Körper angewachsen sind, und er fürchtet, dieses Zucken und Jucken nie im notwendigen Ablauf der Bewegungen fortführen und abschließen zu können. Der Vogel wird unglücklich und reizbar und tauscht das Beobachten der Welt gegen eine ununterbrochene, quälende Innenschau.

Eine grell geschminkte Frau mit kunstblondem Haarschopf tritt auf und fuchtelt mit 1.000-Peseten-Scheinen. Nichts Ungewöhnliches in einer Vogelhandlung. Aber. Der Vogelhändler will 7.000 für einen Vogel. Den höchsten jemals genannten Preis. Der Vogel reckt und streckt sich, um diesen wertvollen Vogel zu sehen. Aber erst, als sein Käfig aufspringt, begreift er. Ich selbst bin es, der 7.000 wert ist.

Weit mehr, als er sich selbst eingeschätzt hatte.

Als eine Hand nach ihm greift, sitzt er nicht still, springt von der einen Sitzstange auf die andere. Noch einmal zurück. Ein Sprung auf den Käfigrand gelingt. Und. Frei ist er. Frei ist er! Fliegt mühelos. Einfach in die Höhe. Setzt sich auf den Ast einer Platane. Sieht auf das Gezetere des Vogelhändlers. Und das der Frau.

Die Lage, in der er sich befindet, ist ihm wie selbstverständlich.

Seinen Namen zu wissen, scheint ihm das Wichtigste für die Welt. Er fliegt in die Nähe seines Käfigs. Lässt sich in sicherem Abstand nieder, liest das Schild: Azulejo. Der Name ist leicht auszusprechen und klingt vornehm. Tatsächlich. 7000 Peseten. Augenblicklich scheint ihm der Preis schon angemessen. Aber: Darf jemand, der für einen anderen soviel wert ist, den einfach verlassen. Ja! Ja! Dass der Händler ihm mehr Wert beimisst als allen anderen, macht den Azulejo stolz. Dieser Stolz nimmt ihm die Sorge.

Ohne Ziel fliegt er los. Das Fliegen an sich ist schön. Ein Stück die Ramblas hinauf. Er biegt in die Carrer del Cardenal Casanas. Ein eigentümlicher Lärm hallt durch die engen Gassen, die wie Schalltrichter wirken. Der Azulejo folgt dieser Lärmspur, bis zu ihrem Ursprung. Auf der Placa Sant Jaume schreien und pfeifen Menschen gegen eine Häuserwand. Mit dem Rücken zu dieser Häuserwand andere Menschen, alle in derselben bunten Kleidung. Halten lange Läufe in den Händen, die dem Vogel hübsch aber nutzlos erscheinen. Das Pfeifen der Menge, die dazu kleine Instrumente an die Lippen hebt, ist schrecklich gemein, und der Azulejo kreist über den Köpfen und singt seine schönsten Tonfolgen. Aber die vielen Menschen übertönen ihn. Sehen ihn nicht einmal. Das kränkt den Vogel. Ist er nicht der wertvollste Vogel auf den Ramblas und hat er nicht die schönste Stimme von allen?

Er verlässt den Platz durch die Carrer Sant Sever. Er landet auf einer Bank. Neben dem Mann, der da sitzt, sind siebzehn Paar Schuhe aufgereiht. Der Mann kaut an einem Stück Brot und wirft dem Azulejo ein paar Krumen hin. Dankbar pickt sie der Vogel auf. Der Azulejo würde den Mann gerne fragen, wozu er diese Schuhe hier aufgereiht hat. Beide sind hungrig und schweigen und essen von dem Brot. Plötzlich sagt der Mann: Na, du frecher Spatz, kannst du nicht genug kriegen. Wie, du frecher Spatz? Der Azulejo ist außer sich. Weiß dieser Mann nicht, dass er ein Azulejo, der wertvollste Vogel der Ramblas ist? Auch der Schönste von allen?

Der Vogel hatte einmal von den Gänsen der Heiligen Eulalia reden hören, die im Kreuzgang der Kathedrale leben. Vielleicht ist es doch unter Vögeln am besten. Und vielleicht, denn es wird langsam Abend, könnte er bei denen ja eine Zeitlang bleiben. Es ist nicht schwer, den Weg dorthin zu finden. Überall sind Schilder, die auf die Kathedrale hinweisen. Doch als er das gemeine Geschnatter der Gänse hört, da wird sich der Azulejo bewusst, wer er ist. Ein Vogel, so herrlich, dass man ihn in einem Käfig gehalten hatte, um sich an seinem Gefieder und seinem Gesang zu erfreuen. Er fliegt an der Kathedrale vorbei.

In Gedanken über die Welt, die Menschen und die Vögel, fliegt er in der Carrer Ares beinahe gegen eine Glasscheibe, hinter der fein kolorierte Federzeichnungen ausgestellt sind. Die meisten darauf abgebildeten Vögel kennt er in natura. Sie lebten mit ihm in der Vogelhandlung. Und da (natürlich, aber warum ganz hinten?) steht auch die Abbildung eines Azulejo. Azulejo, kleiner Singvogel mit blauen Schwanzfedern. Der Vogel sieht das Bild an, dann sein eigenes Spiegelbild in der Glasscheibe, vergleicht das Abbild mit dem Spiegelbild und ist zufrieden mit dem Künstler.

Nein, er hat sich nicht verlesen. 12.000 Peseten steht auf einem kleinen Schild! Wie kann ein Abbild mehr wert sein als das Original. Was für eine Kränkung! Was für eine Kränkung! Er flattert auf. Für einen Augenblick glaubt er nicht zu wissen, wie er zurück zu den Ramblas findet. Aber der Vogel ist akkurat und hat sich jeden Platz, jede Straße, die er entlanggeflogen war, gemerkt.

Die Vogelhändler verräumen schon die Käfige in ihre Nachtquartiere. Da ist auch sein Käfig, sein Zuhause, wo er so viele Wochen zufrieden gelebt hatte. Der Käfig ist verschlossen, freilich, aber er wird sich einfach oben drauf setzen, und der Händler wird den Deckel öffnen, und er wird hineinspringen. Auf die untere Sitzstange wird er sich setzen, wie er es jeden Abend getan hatte, ehe die Käfige weggestellt werden.

Der Käfig ist nicht leer. Vielleicht hat er seinen Käfig mit einem anderen verwechselt. Sie sehen ja alle ähnlich aus. Er zählt die Stäbe. Die der Längsseite und die der Breitseite. 25 mal 15. Es hat sich nichts verändert. Nur sein Name und der Preis auf dem Schild sind durchgestrichen. Margarita steht da - für lächerliche 3.700 Peseten.

Die leise Ahnung davon, was Menschen über Vögel denken, sprengt dem Azulejo fast den Schädel.

Andreas Jungwirth, geboren 1967 in Linz/ Donau, ist freier Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Prosa und lebt in Berlin. Zu seinen Werken gehören unter anderem Im Tosen der Stadt (1998), Der Mann, der nicht töten kann und Seance im Park (2003).


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