Angst und Gereiztheit

Bildungsnot An der TU Chemnitz haben Studierende der Geisteswissenschaften versucht, auf ihre miserable Situation aufmerksam zu machen. Wir dokumentieren ihr Anliegen

Die Technische Universität Chemnitz ist eine ganz normale deutsche Universität. Sie hat ca. 10.000 Studierende, die sich zum großen Teil aus dem Umland rekrutieren. Sie war einmal eine Kaderschmiede für Ingenieure, aber nach der Wende brachen die Studierendenzahlen so massiv ein, dass die Schließung unvermeidlich schien. Zur Rettung wurden 1993/1994 die Fakultät für Wirtschaftswissenschaften und die Philosophische Fakultät gegründet. Diverse Fachhochschulen und Pädagogische Hochschulen aus der Region wurden Zug um Zug arrondiert und in Chemnitz zusammengezogen.

Seit Mitte der neunziger Jahre wird deutlich, dass die Philosophische Fakultät dieser Universität nie etwas anderes gewesen ist als ein Steigbügelhalter der technischen Fächer. 1997 fiel nach zähen Kämpfen die Lehramtsausbildung weg. Damit öffnete man den Streichungen von Stellen und Mitteln Tür und Tor.

Und dann kam Bologna: aus den traditionellen Studiengängen wurden Monstren aus bürokratischer Hochrüstung, flottem Design und intellektueller Verwahrlosung. Außerdem trat 2009 das neue Sächsische Hochschulgesetz in Kraft, das die Hochschule in eine Präsidialinstitution verwandelt, die ihrerseits von Politik und Wirtschaft gelenkt wird. Der Hochschul-Heterokratie steht nun nichts mehr im Wege.

Kürzlich hat an der TU ein Teil der Philosophische Fakultät auf den Legitimationdruck, der auf ihr lastet, reagiert und sich abgespalten. Der Kopf des Regenwurms heißt nun „Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften“, der abgeworfene Schwanz, in dem die unprofitablen Fälle untergebracht werden, muss den leidigen Namen „Philosophische Fakultät“ weiter tragen.

95 Thesen für die Universität

Spaltungen setzen sich in den Spaltprodukten fort. Das führt dazu, dass sich ein Teil der Geisteswissenschaften immer stärker am naturwissenschaftlichen Erkenntnisprinzip ausrichtet. Kern dieses Prinzips ist das Experiment, durch das eine These verifiziert oder falsifiziert wird. Vollkommen anders liegen die Dinge bei den Geisteswissenschaften. Hier gibt es Gedankenexperimente und Ideen, Thesen und Interpretationen. Dabei geht es nicht um einen absoluten Geltungs- bzw. Wahrheitsanspruch, sondern darum, die menschliche Natur und Kultur zu pflegen. Sinn der Kommunikation ist ihre Weiterführung: Der Weg ist das Ziel.

Produktion von Kommunikation - genau das hätte auch das Motto der „Reforma(k)tion“ sein können. Die „Reforma(k)tion“ war der Versuch einer Gruppe von Studierenden im Jahr 2009 eine Diskussion über die Situation an der TU Chemnitz in Gang zu bringen. Sie fragten schlicht die universitären Akteure, was denn so schief läuft.

95 Thesen für Deine Universität hieß die zweiwöchige, direkt auf dem Campus gestartete Aktion. Der organisatorische Ablauf war denkbar simpel: Rote Kärtchen wurden verteilt, die an vielen auffälligen Standorten der Chemnitzer TU in ebenfalls rote Kästen mit der Aufschrift "Trash Under Control? Tell Under Cover!" eingeworfen werden konnten. Es gab keine standardisierten Fragen. JedeR konnte sich ohne Vorgaben äußern.

Mittel und Ziel der Aktion war es, das Prinzip der Evaluation gemäß ihrer ursprünglichen Absicht zu nutzen: über Missstände aufzuklären, die Finger in die Wunden zu legen, Öffentlichkeit herzustellen, kurz: Aufklärung zu betreiben. Es war die Hoffnung, eine kritische Masse zu erzeugen, um damit die fällige Reformation anzustoßen.

Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Die gesammelten Thesen wurden, wie es sich gehört, von 300 Demonstranten vor dem Rektorat angeschlagen. Es folgten vereinzelt inoffizielle Zustimmungs- und Interessebekundungen. Von offizieller Seite: keine Reaktion, keine Stellungnahmen, Terminverschleppungen – das Problem wurde ausgesessen.

Dabei hätte es eine Menge zu besprechen gegeben, wie ein Blick auf die Thesen zeigt. Ganz oben rangiert die Einführung und Umsetzung der Bachelor- und Masterstudiengänge, die sich vor allem in einer miserablen Situation der Lehre niedergeschlagen haben:

- Die Stundenpläne sind so überfüllt, dass Freiwilligkeit und Motivation weitgehend auf der Strecke bleiben.

- Gleichzeitig erscheint das Lehrangebot lückenhaft und es herrscht eine allgemeine Unsicherheit darüber, was für ein Fach zu wissen wichtig und notwendig ist.

- Der zeitliche Druck ist omnipräsent und verhindert, sich auch nur auf eine einzige Sache so einzulassen, wie sie es verdiente und wie das Interesse, um zu erwachen, es nötig hätte.

- Die Seminare sind häufig von Konkurrenzdruck bestimmt. Es gibt keine Diskussionskultur, stattdessen herrscht ein autoritärer Unterrichtsstil, der so hingenommen wird. Ohne jede juristische Grundlage herrscht Anwesenheitspflicht. Viele Studierende fühlen sich an ihre Schulzeit erinnert.

- Viele Seminare sind überfüllt. Deshalb müssen einige Dozenten das gleiche Seminar zwei- dreimal die Woche geben.
Andere Dozenten wirken oft desinteressiert und schlecht vorbereitet; sie kaschieren das nicht selten durch unnötig autoritäres Auftreten.

- Die extrem kurzen Arbeitsverträge im Mittelbau vereiteln die Kontinuität der Lehre. Darüber hinaus setzen sie die Lehrenden unter Druck, sich durch Forschungspublikationen zu profilieren – zuungunsten ihres Engagements in der Lehre. Berufungen werden vor allem an der Philosophischen Fakultät systematisch hinausgezögert; manche Arbeitsverträge enden mitten im Semester. Die Krönung sind Zwei-Monats-Verträge für Familienmütter und -väter.

- Die bürokratischen Auflagen des Studiums sind kompliziert und verschlingen unnötig viel Zeit. Sorgfältig studiert werden nur noch Studien- und Prüfungsordnungen, die exakt vorgeben, wer wann was wo, warum und vor allem: wie lange zu tun hat.

Insgesamt: Gehetztheit und Angst auf allen Seiten. Alle scheinen zu befürchten, dass Kritik persönliche Nachteile zur Folge hat. Vielleicht war deswegen die Reaktion auf die 600 verteilten Flyer eher zurückhaltend. Viele Studenten gaben an, dass sie die Reforma(k)tion zwar prinzipiell befürworten würden, mochten sich aber nicht beteiligen.


Die Wurzel des Problems scheint dabei im Verhältnis zur Zeit zu liegen, von dem die Lehr- und Studiensituation determiniert wird. Die immer engeren Strukturen, die zunehmende zeitliche Verkürzung, die ökonomisch effiziente Personalplanung etc. führen nicht dazu, selbstständige, zukunftstragende Persönlichkeiten in Forschung und Lehre hervorzubringen, sondern halbgebildete, desinteressierte Dutzendware.

Umgekehrt bedeutet das, dass eine systematische, institutionell verankerte Entschleunigung der Kern jeder Universitätsreform sein muss, die ihren Namen verdient. Ohne Verlangsamung kann es keine vernünftige Lehre geben. Ohne Zeit für eigene Arbeit, für das Gespräch und auch für das Nichtstun, das der Hof der Innovation ist – kurzum: ohne Freiheit kann die mésalliance aus Angst, Stress, Mißtrauen, Inkompetenz und fehlender Motivation, die in der Lehre allenthalben regiert und Lehrende und Studierende miteinander verbindet, nicht in das Bündnis zwischen ihnen überführt werden, das allein das Fundament einer Universität ist. Das wäre Wissenschaft als gelebte Kommunikation, von der alle Beteiligten profitieren würden.

Alles weitere, was zu fordern wäre, leitet sich mehr oder weniger aus dieser einen Rahmenbedingung ab: Abschaffung der Zeitverträge und der Altersgrenzen für die Lehrenden, weitgehende Entfristung des Studiums, Ernstnahme der studentischen Interessen und thematische Mitbestimmung der Studierenden in der Lehre, demokratische Mindeststandards in der universitären Selbstverwaltung, größere Kontinuität bei den Lehrveranstaltungen, Verkleinerung der Seminare, Erprobung anderer Unterrichtsformen, Einführung einer didaktischen Grundausbildung der Lehrenden usw. usf. Dies alles würde zu einer Universitätsreform gehören, die ihren Namen verdient, weil sie die Qualität von Lehre und Forschung nicht systematisch verschlechtert wie gegenwärtig, sondern nachhaltig verbessert.

Max Wolf, Martin Wetzel, Celia Rothe, Holm Krieger, Wolfram Ette
reformaktion@googlemail.com

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