Angst vor niemandem

RUSSLAND Zwei Millionen Kinder leben landesweit auf der Straße. Sie flüchten vor Suff und Gewalt in Familien und Internaten

Ina kratzt an einem angerissenen Fingernagel. Ihre Hände starren vor Schmutz. Erst vor ein paar Tagen hat sie hellen Nagellack aufgetragen. Aber der ist unter der schwarzen Schicht kaum noch zu sehen. Das wie ein Junge gekleidete Mädchen mit der Topffrisur, der grünen Bomberjacke und dem orangefarbenen Pullover hockt auf Knien in der Halle des Kursker Bahnhofs in Moskau und stellt sofort klar: "Ich bin ein Mädchen." Inas kleines Gesicht hat einen harten, erwachsenen Zug. Ihre Gesten ähneln denen einer 20jährigen. Sie ist aber erst elf. Vor Jahren starb der Vater - und als die Mutter im Suff vom Balkon fiel und ins Hospital kam, wurde ihr das Sorgerecht entzogen. Ina und der Bruder kamen in ein Internat nach Ljúberzy bei Moskau. Fünf Jahre lebte sie dort. Dreimal ist sie schon geflohen. Zuletzt vor vier Wochen mit einer Freundin, wegen der Mintí, der Polizisten, die das Heim bewachen. "Die prügeln bei jeder Kleinigkeit oder stecken uns in den Affenkäfig." So heißt der eiserne Karzer. Ob der Heimleiter davon wusste? - "Natürlich!"

Mintí sind die einzigen, vor denen die Straßenkinder vom Kursker Bahnhof Respekt haben. Die grau uniformierten Ordnungshüter bemühen sich ständig, die Kinder zu vertreiben. Da sie niemanden einsperren dürfen, der keine Straftat begangen hat, versuchen sie mit allen Mitteln die Heimadressen zu erfahren, um die Aufgegriffenen dort abzuliefern. Ina erzählt, Mintís hätten sie in der Metro festgehalten und mit Knüppeln auf die Beine geschlagen. "Dazu schrien sie ›Gib uns sofort Deine Telefonnummer‹ ... Dann musste ich die Schnürsenkel rausziehen, damit ich nicht abhauen konnte. Meine Nase haben sie mit Desinfektionsmittel grün angemalt. Als Erkennungszeichen ..."

Wilde Freiheit

Wovon Ina lebt? "Streljáju Rubl" - "Rubel schießen". Man sucht sich aus der Menge eine Person und bettelt sie an. Ob sie klaut? Natürlich nicht! Vielleicht mal eine Schachtel Zigaretten von Freunden. Vor dem Winter hat sie keine Angst. Sie schläft mit ihren Freundinnen vor dem "Jack-Pot". Dort steigt warme Luft aus einem Schacht. Verhungert sieht Ina nicht aus. Wo sie sich wäscht? In einem Dampfbad. Jeden Samstag organisiert die russische Kirche Banja-Besuche. Dort bekommt Ina auch frische Wäsche.

"Ein Kind, das mehr als sechs Monate auf der Straße zugebracht hat, lässt sich nur noch schwer in das normale Leben integrieren", meint Sláwa Moskwitschów, ein Psychologe der im Süden Moskaus an der Profsojúsnaja in einem Kinder-Prijut arbeitet. "Das Leben auf der Straße hat seinen Reiz. Du kannst schlafen soviel du willst. Du isst, wann du willst. Ob du rumlaufen oder liegen willst, entscheidest du selbst. Lernen brauchst du nicht. Eine wilde Freiheit."

Im Prijút an der Profsojúsnaja - eine zu Beginn der Neunziger gegründete Unterkunft - leben zur Zeit 40 Kinder. Moskau verfügt inzwischen über neun solcher Heime mit etwa 400 Plätzen. "Angesichts der 30.000 Straßenkinder bräuchten wir eigentlich doppelt soviel", meint Sapár Kuljánow, der besagten Prijút seit 1995 leitet. Seine Einrichtung wird über städtische Gelder und Spenden finanziert, für drei andere kommt die Sozialverwaltung auf, den Rest finanzieren die russisch-orthodoxe Kirche und das Rote Kreuz. Die Prijúts ergänzen gewissermaßen staatliche Internate und Kinderhäuser, von denen es in jedem Moskauer Rayon mindestens fünf gibt. Wer im Prijut landet, bleibt dort in der Regel zwei, drei Monate und wird danach wieder der eigenen Familie, Adoptiveltern, Internaten oder Militärschulen übergeben.

"Die Moskauer Bevölkerung hat sich daran gewöhnt, dass es obdachlose Kinder gibt", meint Kuljánow. "Die Lage ist derzeit schlimmer als vor zehn Jahren. Die Zahl der Straßenkinder wächst kontinuierlich. Um so weniger kann ich verstehen, mit welcher Lethargie und Gleichgültigkeit die Verwaltung der Stadt damit umgeht." Moskau ist im Vergleich zu anderen Städten Russlands eine durchaus wohlhabende Kommune - sie liegt verkehrgünstig und hat daher für Kinder aus dem Ural, dem Kaukasus oder auch aus den asiatischen GUS-Staaten eine beträchtliche Anziehungskraft. Selbst aus Tadschikistan schlagen sich Kinder nach Moskau durch. Angesichts von Krieg und Chaos scheint ihnen das Leben hier paradiesisch. So versuchen in dieser russischen Metropole weitaus mehr Kinder, auf der Straße zu überleben, als die Statistik zugibt. Offizielle Angaben vermerken nur die Zugewanderten, Moskauer Straßenkinder hingegen werden von der Miliz nach Hause gebracht, soweit ihre Adresse bekannt sind. "Diese Kinder tauchen in keiner Bilanz auf. Es gibt sie aber überall in der Stadt - fast in jedem Wohnhaus", meint Kuljánow. Sie suchen vor Eltern Zuflucht, die trinken und schlagen. "Einige kehren zum Übernachten nach Hause zurück, andere bleiben in Kellern, Speichern und Abstellräumen ..."

"Urod" - Missgeburt

In ganz Russland leben heute zwei Millionen Kinder nicht in der Obhut ihrer Eltern - 1,5 Millionen davon besuchen keine Schule mehr. Nach dem letzten Kinder-Report der Regierung hat sich die Zahl der Fälle, in denen das Sorgerecht entzogen wurde, von 1995 bis 1998 um ein Fünftel erhöht. Der Bericht verschweigt auch nicht, warum so viele Kinder aus den Internaten türmen: "Wegen der rauen Behandlung, der Erniedrigung menschlicher Würde durch die Pädagogen und die anderen Angestellten", heißt es.

In dem einladend eingerichteten Prijút an der Moskauer Profsojúsnaja wissen die Betreuer, wie schwierig es sein kann, Adoptiveltern zu finden. In dieser Hinsicht habe man in Russland zu wenig Erfahrungen, bedauert Sapár Kuljánow. Viele Menschen wären der Meinung, dass Straßen- und Heimkinder "Urody" - "Missgeburten" - seien. Angeblich würden sie automatisch zu Alkoholikern, Drogenabhängigen, Dieben, Prostituierten. Diese Überzeugung sei selbst bei Erziehern in staatlichen Internaten verbreitet. "Doch nach unserer Erfahrung kann man 99 Prozent der Kinder wieder in eine Familie eingliedern." - Kuljánow bemüht sich auch deshalb um den Aufbau eines Sozialen Hilfszentrums. Es soll mit der völlig vernachlässigten Betreuung von Familien beginnen, um Gewalt zu verhindern und Konflikte zu lösen.

Die Kinder auf dem Kursker Bahnhof interessiert das wenig. Für sie sind nur die nächste Stunden und das Gefühl von Sicherheit in der Gruppe wichtig. Der kahl geschorene Alexej mit seinen verschorften Wunden am Mund erklärt mit dem Gesichtsausdruck und der Intonation eines erwachsenen Mannes: "Ich habe vor niemandem Angst. Vor niemandem." Dann steht er auf und schaut konzentriert auf die andere Seite der Bahnhofshalle, wo einer der Bahnhof-Mintís schlendert. Gespannt schauen die Kinder auf den Jungen, bis sein Gesicht Entwarnung anzeigt. Von den erwachsenen Obdachlosen ein paar Meter weiter holt sich Alexej Brot und Speck. Was sich davon nicht kauen lässt, bekommt Walód. Der schwarze Hund mit den lebhaften Augen wird von der Gruppe mit durchgefüttert.

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