Kurz vor der Wahl machten Bremer Schüler einen auf dicke Hose. Die Jugendlichen stellten eine Wette vor. Sie prophezeiten: Bei der Bürgerschaftswahl werde die Beteiligung der Erstwähler besser sein als die der 21- bis 35-Jährigen. Einige Abgeordnete hielten dagegen. Doch die Schüler behielten recht. Während die Zwanziger bis Mittdreißiger bei der Wahl auf deutlich unter 40 Prozent sackten, kamen die Wahlneulinge in der Hansestadt auf fast 50 Prozent.
Das war eigentlich eine ganz gute Nachricht zu der Katastrophenwahl in Bremen. Nur knapp die Hälfte der Wahlberechtigten war zu den Urnen gegangen, und das große Wehklagen hatte eingesetzt. Vor allem über den sozialen Brennpunkt Tenever. Lediglich jeder Dritte aus dem Bremer Osten setzte sein Kr
te sein Kreuzchen auf den Wahlzettel, in manchen Wahllokalen ging es runter bis auf 25 Prozent. Demokratie ade. Die Armut ist groß, der Anteil von Hartz-IV-Beziehern so hoch wie die Wahlbeteiligung.Tenever ist kein Einzelfall. In Bremen gibt es mit Gröpelingen, Neue Vahr Nord und Süd sowie mit Blumenthal in Bremerhaven weitere arme Stadtteile, in denen es ähnlich aussieht. Aber auch in so unterschiedlichen Städten wie Dresden, Hamburg, Hannover, Köln oder Stuttgart zeigt das Interesse der Bürger am Wahlakt steil nach unten. Präziser formuliert: Es sinkt in bestimmten Stadtteilen. „Die Höhe der Wahlbeteiligung lässt sich durchaus aus der sozialen Lage eines Viertels ableiten: Je ärmer ein Stadtteil, desto weniger Menschen wählen“, schreibt Armin Schäfer. Der Forscher vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln untersucht seit längerem den Zusammenhang von Wahlengagement und sozialer Lage. Schäfers Resümee: „Wir müssen aufpassen, dass nicht Teile der Bevölkerung von der politischen Teilhabe abgekoppelt werden.“Tenever ist der Fall eines Viertels, das unter Arbeitslosigkeit, Integrationsproblemen und Bildungsarmut leidet. In einem der neu geschaffenen Eingangsbereiche der Hochhäuser treffen sich an jedem Samstag Frauen aus der Nachbarschaft. Direkt vor den Fahrstühlen haben sie Bierzeltgarnituren aufgebaut. Es gibt Frühstück mit Frischhaltebox und Thermoskanne. „Wir treffen uns hier und erzählen ein bisschen“, sagt Silvia Suchopar. Sie wollen etwas tun – gegen die Anonymität im Block und für das Miteinander der Menschen aus über 90 Nationen. Sie alle sind auch in anderen Nachbarschaftsinitiativen aktiv: Im Mütterzentrum zum Beispiel, in den zahlreichen Cafés oder den Umsonstläden.Es fehlt an HandfestemIn den vergangenen 25 Jahren sind rund 1.000 soziale Projekte realisiert worden. Mit Fördermitteln von Bund und Land, von denen die Stadtteilgruppe hier mehr als 250.000 Euro pro Jahr verwaltet. Über 50 soziale Begegnungsstätten gibt es heute in Tenever, vom Kinderbauernhof im Grünen bis zum selbstverwalteten Internetcafé. Doch obwohl viel passiert sei, sagt Suchopar, fehle es immer noch an Handfestem: „Ehrenämter ersetzen keine Kitaplätze.“Was in Tenever gemacht wird, um das Thermometer der Demokratie wieder nach oben zu treiben, ist gar nicht schlecht. Das öffentliche soziale Leben soll wieder in Gang kommen. „Es reicht auf jeden Fall nicht, diesen Menschen die Wahlkabine vor die Tür zu stellen“, sagt Sebastian Bödeker. „Das ist zu technokratisch gedacht.“ Der junge Politologe vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung sagt das mit Blick auf manche Bemühungen von Parteien und Politikern, die nach jedem Absturz der Wahlbeteiligung hektisch Maßnahmen fordern.Tatsächlich sprudeln die Ideen nur so, mit denen man es dem Wähler leichter machen könnte, sein Kreuz zu setzen. SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi schlägt seit längerem vor, „etwas praktischer und lebensnäher an die Frage heranzugehen, wie steigern wir die Wahlbeteiligung“. Ihre Lösung hat sie aus dem Urlaub in Schweden mitgebracht. Dort können die Bürger an mehreren Tagen wählen; und obendrein auch an vielen Orten – im Supermarkt, an Bahnhöfen und anderen öffentlichen Plätzen. Ähnliche Vorschläge kommen aus anderen Parteien, quer durch das politische Spektrum.Sebastian Bödeker runzelt bei solchen Ideen die Stirn. „Mobile Wahlkabinen, längere Wahlzeiten oder Online-Votings, das bringt unter Umständen einen Zuwachs von ein oder zwei Prozentpunkten in der Wahlbeteiligung. Aber das adressiert nicht das strukturelle Problem, dass sich bestimmte Milieus abkehren – vom öffentlichen Leben, nicht nur von der Politik“, sagt der Politikwissenschaftler. „Die komplizierte Frage ist: Wie kommen wir in die Lebenswirklichkeit von abgehängten Menschen hinein? Die Antwort kann jedenfalls nicht heißen, dass einmal im Jahr der Spitzenkandidat irgendeiner Partei bei denen an der Haustür klingelt.“ Die Lage ist ernst. Wenn sich Angehörige bestimmter Milieus aus der politischen Teilhabe durch Wahlen zurückziehen, wird die Legitimationsgrundlage der Demokratie unterminiert.Im Park vor den Tenever Häusern steht eine neue Sportanlage, im Rasen sind noch Spuren vom Bausand zu entdecken. Auf den Steinen am Rand sitzen zwei junge Mädchen mit Kapuzenpullis. Eine hat sich einen stilisierten Schlagring auf die Tasche gemalt. „Das bedeutet nichts“, sagt sie über den hier angesagten Gangster-Chic. Die Mädchen warten auf jemanden, sagen sie, und sind dann doch schnell verschwunden. Es riecht nach Marihuana.Ein dünner FadenWie kann man die Jugendlichen in Tenever für das öffentliche Leben, für die Politik interessieren? Gerald Wolff sprüht nur so vor Ideen. Der junge Mann von einem Verein namens „Kumulus“ beansprucht, so etwas wie einen Masterplan für eine stärkere Wahlbeteiligung in der Tasche zu haben – jedenfalls einen kleinen. Er heißt Juniorwahl. Wolff hat vor 15 Jahren ganz klein angefangen mit ein paar Urnen für 14- bis 18-Jährige, die er in einer Schule aufstellte. Heute ermöglicht er Wahlen für Jugendliche in ganz Deutschland. Mehr als eine halbe Million Wähler hat er mit seinem Team gewonnen. „Wer als Erstwähler dreimal nacheinander wählen geht“, zitiert er eine Studie, „der bleibt Wähler. Wer dreimal nicht wählt, der kommt nie wieder.“Der Faden ist dünn, an dem sich Gerald Wolff festhält. Aber es gibt ihn. In Bremen war schon bei der zweiten Juniorwahl im Jahr 2011 die Rate der Erstwähler zwischen 16 und 20 Jahren um neun Prozentpunkte gestiegen. Ein kausaler Zusammenhang zwischen den Juniorwahlen, die in der Schule stattfinden, und denen an der richtigen Urne ist jedoch bislang nicht belegt.Immerhin finden sich interessante Spuren: Nicht nur Juniorwähler werden oft richtige Wähler, auch deren Familien werden entzündet. US-amerikanische Forscher haben gezeigt, dass die Väter und Mütter von sogenannten Kids-Votings öfter zur Wahl gehen. Wahrscheinlich weil die Jugendlichen zu Hause am Küchentisch anfangen, mit ihren Eltern über Politik zu diskutieren. Oder weil sie schlicht das Zuhausebleiben am Wahltag kritisieren. Richtig erforscht hat die Verbindung noch niemand. Aber vielleicht kommt das ja bald.Die Bremer Schüler, die ihre Bürgerschaftsabgeordneten herausforderten, haben am Montag nach der Wahl jedenfalls gleich einen Antrag gestellt. In Zukunft sollen die Urnen für die Erstwähler direkt in der Schule statt an anderen öffentlichen Orten aufgestellt werden. Das wäre dann in der Gesamtschule Ost, die liegt in Tenever. Die jungen Wahlwettkönige kommen nämlich von da, dem Ort, wo nur noch wenige Menschen wählen gehen.
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